Entdeckung der Autorin Pirkko Saisio: Aus dem Schatten getreten
In Finnland ist Pirkko Saisio sehr bekannt. Nun ist „Gegenlicht“, der zweite Teil ihrer autofiktionalen Trilogie, endlich auf Deutsch erschienen.
Fast am Ende des autobiografisch geprägten Romans „Gegenlicht“ stehen diese Zeilen, die den Kern der Schriftstellerin Pirkko Saisio berühren, ohne dass sich die damals 19-Jährige dessen bewusst wäre: „[…] denn ihre Welt, das hat sie noch immer nicht erkannt, besteht aus Menschen, spinnennetzfeinen Fäden: raschen Blicken; […] unausgesprochenen Worten und ausweichenden oder nachgebenden Gesten; endlosem Rätselraten und tastenden Interpretationen.“
Im Buch wird die Figur der jungen Pirkko im Folgenden eine Geschichte von Mutter und Sohn entwerfen, deren Vorbilder sie während einer Bootsfahrt über einen Schweizer See beobachtet hatte.
Schriftstellerin zu werden, Schriftstellerin zu sein, sich die Welt und die eigene Persönlichkeit schreibend zu erschließen, das ist das zentrale Motiv der 1949 geborenen finnischen Autorin, die in ihrem Heimatland sehr bekannt ist.
Sowohl der nun übersetzte Roman „Gegenlicht“ als auch ihr bereits vor wenigen Monaten auf Deutsch erschienenes Werk „Das rote Buch der Abschiede“ erzählen vom Wunsch, Schriftstellerin zu werden, und davon, wie und unter welchen Bedingungen sich dieser Wunsch realisiert; beide Bücher sind zugleich aber auch ein eindrückliches Zeugnis dieses genauen und tastenden Blicks auf die Menschen und die „spinnennetzfeinen Fäden“, die sie miteinander verbinden.
Pirkko Saisio: „Gegenlicht“. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 255 Seiten, 25 Euro
Es ist ein Glück, dass wir Pirkko Saisio – die auch Schauspielerin, (Theater-)Regisseurin, Drehbuchautorin ist – nun mit diesen zwei autofiktionalen Titeln hierzulande entdecken können, wenn auch quasi verspätet. Denn beide Bücher sind im Original bereits vor rund zwanzig Jahren erschienen und Teile einer Trilogie.
Feinmaschiges Netz der Erinnerungen
Deren Abschluss bildet „Das rote Buch der Abschiede“, das in der deutschen Übersetzung allerdings zuerst erschienen ist. Hier blickt Saisio auf ihr literarisiertes Ich der Studienzeit Anfang der 70er Jahre und die Zeit um die Geburt der Tochter 1981. „Gegenlicht“ ist der jetzt erschienene Mittelteil und erzählt von der Teenagerin und dann 19-jährigen Abiturientin. Teil eins wird alsbald folgen.
Man kann diese Entscheidung des Verlags nachvollziehen, denn die Erinnerungsarbeit, der Saisio in beiden Büchern nachgeht, ist im „Rote(n) Buch der Abschiede“ noch vielschichtiger, das Erinnerungsnetz feinmaschiger gesponnen, die miteinander verwobenen Themen sind vielfältiger. Die formalen Einfälle, die Zersplitterung etwa der Chronologie innerhalb des Textes, noch radikaler. Schließlich erhielt die zuvor schon mehrfach dafür nominierte Autorin den renommierten Finlandia-Preis 2003 für dieses Werk, das für die Entdeckung der hier nahezu Unbekannten einen tollen Einstieg bietet.
Wir begegnen der literarisch gestalteten jungen Pirkko also in den 70er Jahren als Studentin und im Jahr 1981, das so bedeutsam ist, weil ihre Tochter geboren wird und sich zugleich die Trennung, der Abschied von ihrer großen Liebe Havva vollzieht. Die Erzählung wechselt stetig zwischen diesen Zeitebenen, ergänzt durch teils wie Kommentare wirkende Passagen aus der Zeit, in der Saisio das Buch schreibt.
„Und das ist sie im Jahr neunzehnhundertsiebzig: […] Sie ist stämmig, breitschultrig und markant. […] Und sie schreibt auf ihrer Remington Kurzgeschichtenanfänge. […] Es ist die Zeit vor Havva. Es ist auch die Zeit vor dem Mädchen mit den Clownaugen, vor dem grünen Zimmer in der Maneesikatu, vor dem Studententheater“, heißt es ziemlich zu Beginn, und hier scheint vieles auf, um das es im Folgenden gehen wird.
Es geht um die befreiende Erkenntnis, dass es Frauen gibt, die Frauen lieben, und Orte, an denen sie ihr Begehren feiern. Darum, was dies bedeutet in einer Zeit, in der Homosexualität in Finnland kriminalisiert und ein Tabu ist. Um das Ringen um künstlerische Entfaltung, die Bedeutung des Schreibens. Um die politische Entwicklung, insbesondere an den Universitäten. Und wie all dies zusammenhängt.
Entfremdung von den Eltern
„Erinnerungen heften sich nicht an Wörter. Sondern an Bilder, an Kristalle aus Farben, Gerüche und Bewegungen, die sich gegenseitig anstoßen.“ Dieser anstoßenden Bewegung der Erinnerung folgt die Form des Erzählens, das sich von assoziativen Anregungen und dadurch ausgelösten zeitlichen wie thematischen Sprüngen leiten lässt.
Auch innerhalb der zwei Zeitebenen bricht die Chronologie auf. Personale Erzählerin und Ich-Perspektive ergänzen einander, scheinen Nähe und Distanz der rückblickenden Saisio zu ihrem jungen Alter Ego auszutarieren. Auch eine Art Dialog mit sich selbst entsteht, etwa als die junge, sehr unsichere Pirkko dem Studententheater beitritt: „Wollte sie das überhaupt? Ich weiß nicht. Doch, ich weiß es. Sie wollte es. Ich wollte aus dem Schatten treten.“
Aus dem Text strahlt eine vibrierende Lebendigkeit, die die Übersetzerin Elina Kritzokat hervorragend vermittelt. Pirkko, von einem ganz realen Fieber niedergestreckt, als das Clownauge genannte Mädchen ihr eröffnet, sie liebe Frauen. Sie werden ein Paar. Ihre Mutter, die sich (zunächst) jede Berührung und weiteren Kontakt verbittet, nachdem die Tochter sich ihr offenbart.
Pirkko als Autorin revolutionärer Stücke am Studententheater. Die große, komplizierte Liebe zu Havva und die überaus schmerzhafte Trennung nach vielen Jahren. Der Konflikt mit der „revolutionären Bewegung“, deren Ideologie die Universitäten stark prägte und der zufolge Homosexualität ein Merkmal des kapitalistischen Verfalls sei. Der erste Vertrag mit einem Verlag.
Angedeutet wird auch die Entfremdung zu den streng kommunistischen Eltern, in deren Wohnung im damaligen Helsinkier Arbeiterviertel Kallio die Werke Lenins und Stalins die einzige Lektüre darstellten. In „Gegenlicht“ kann man nun die Einflüsse der Herkunft, die Konflikte mit den Eltern genauer nachvollziehen. Aber auch die frühe Hingezogenheit des Mädchens Pirkko zur Literatur. Der Wechsel aufs Gymnasium schafft neue Zugänge.
Als Erste in der Familie macht sie Abi
Ironisch beschreibt die Autorin die Schule als „Tempel“: „Ich bin jede Dritte, wie alle hier. Nur für jede dritte Person wird die Tempeltür geöffnet, daran werden wir regelmäßig erinnert. Zugleich habe ich diese Gunst des Schicksals nicht verdient“; indem sie zugleich auf ihren Vater verweist – dessen „Versuch, Tempeljunge zu werden, war schon nach zwölf Monaten gescheitert“ –, macht sie die soziale Herkunft zum Thema. Als Erste in der Familie macht sie Abitur und studiert.
Auch in „Gegenlicht“ springt Saisio zwischen zwei Zeitebenen, erzählt von der 14-Jährigen und der Abiturientin. Nutzt auch hier Ich-Perspektive und personale Erzählerin im Wechsel. Bringt den Leser*innen die heftigen inneren Auseinandersetzungen der Teenagerin mit Gott nahe, der in ihrem Elternhaus gar nicht existieren dürfte. Ebenso die aufwühlende Intensität der Gefühle von Verrat und Hingabe in einer Mädchenfreundschaft in Zeiten der Pubertät.
Die 19-Jährige zieht es schließlich mit hehren Idealen und Pestalozzi im Kopf in ein „Waisenhaus“ in der Schweiz. Die wunderbare Selbstironie Saisios, mit der sie auf ihre literarischen jüngeren Ichs blickt, verbindet beide Bücher. Wie in einem Kinofilm gesehen, will auch die Schweiz-Reisende von den Kindern „angebetet werden. Ohne es sich einzugestehen, aber durchaus berechtigt geht sie davon aus, bei schutzbedürftigen Waisenkindern auf besonders selige Anbetung zu stoßen.“
Vom Leben betrunken
Das Projekt Schweiz scheitert. Aber die Literatur ruft am Ende ihres Aufenthalts. Und die gesellschaftlichen Umbrüche gegen Ende der 60er Jahre auch.
Wenn es in „Gegenlicht“ heißt: „Ich muss glauben, dass mein Leben zu einer Geschichte wird. Und daran glaube ich. Nein, tue ich nicht“, dann sind beide Bücher Ausdruck des Versuchs, eine solche Geschichte zu erzählen.
Aus den Erfahrungen von Verunsicherung, Schmerz, Freude, Momenten von Erkenntnis eine Geschichte zu rekonstruieren, die nicht wahr im strengen Sinne ist. Aber in der doch das nahe, zugleich brüchige Porträt Saisios steckt. Die formalen, stilistischen Mittel spiegeln diesen Moment der nie abgeschlossenen (Re-)Konstruktion: die Zersplitterung der Chronologie, die assoziativen thematischen Sprünge, die Wechsel in der Erzählperspektive lassen keine gradlinige, eindeutige Erzählung zu.
Dass „Das rote Buch der Abschiede“ so wundersam „anarchisch“ geworden ist, wie Saisio kürzlich in einem Interview sagte, darin noch konsequenter als sein Vorläufer, könnte in der verhandelten Zeit begründet liegen, die auf persönlicher Ebene (insbesondere die Entdeckung der sexuellen Orientierung) wie gesellschaftlicher (aufs Engste mit ersterer verknüpft) noch mehr Räume für Reflexion, Zweifel, aber auch unbändige Lebenslust öffnete: „[…] ihre mentale Verfassung vom Leben betrunken“.
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