Zahl der Angriffe auf Obdachlose steigt: Gezielte Menschenfeindlichkeit
Angriffe auf Obdachlose durch Nichtobdachlose gibt es immer häufiger. Eine politische Verortung der Täter*innen fehlt bei der Aufarbeitung oft.
E in Video dokumentiert die Misshandlungen. In Peine haben drei Männer und eine Frau einen Wohnungslosen am Samstagabend mindestens zwei Stunden lang gequält. Auf einem Wohnungsbalkon in der niedersächsischen Stadt schlugen sie auf den 42-Jähren ein. Sie beleidigten ihn und urinierten auf ihn. Ein Zeuge aus Langenhagen alarmierte die Polizei. Er hatte von einem Bekannten Videos und Fotos von dem Übergriff geschickt bekommen. Polizist*innen erkannten den Balkon und konnten das Opfer befreien.
„Die Angriffe auf Obdachlose haben zugenommen“, sagt Heike Kleffner vom „Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“. Der Verein hat den Anstieg durch ein unabhängiges Monitoring erfasst, an dem sich acht Bundesländer beteiligen.
Die Einschätzung deckt sich mit Daten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Dort wurden von 1989 bis 2023 allein 626 Todesfälle durch Gewalteinwirkungen dokumentiert. In 345 Fällen war die Gewalt von anderen Wohnungslosen ausgegangen, in 281 Fällen kam sie von Wohnungshabenden. Im gleichen Zeitraum registrierte die Bundesarbeitsgemeinschaft 2.350 schwere Körperverletzungen, davon waren 1.350 von Wohnungshabenden verübt worden.
Aber warum ist es wichtig, ob die Täter*innen selbst wohnhaft sind oder nicht? Die Unterscheidung deute auf verschieden Motive hin, erklärte die ehemaligen Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft, Werena Rosenke, im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Während die Taten von Obdachlosen sich häufig in Notunterkünften ereigneten und nicht unbedingt als gezielte Angriffe zu verstehen seien, müsse man bei Nichtobdachlosen von gezielten Angriffen aufgrund von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausgehen.
Eine politische Verortung der Tat und des Motivs fehlt aber bei der Strafverfolgung und in der Berichterstattung oft. Die Frage, warum die Gewalt sich gerade gegen Obdachlose richtet, bleibt vielmals unbeantwortet.
Der 2024 verstorbene Soziologe Oskar Negt hat sich viel mit dieser Frage auseinandergesetzt. Der „Kältestrom“ einer neoliberalisierten Wirklichkeit, schrieb er, lasse den Wert des menschlichen Lebens insgesamt sinken. Empathie und Solidarität nähmen, gerade auch gegenüber Schutz- und Hilfsbedürftigen, ab. Leistungsdruck und Verlustängste könnten jene, die Einkommen und Wohnung haben, zu Abwertungen und Angriffen auf andere treiben.
Auch die Autor*innen der jährlichen Studie „Die distanzierte Mitte“ der Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchen diese Frage. Für das Jahr 2023 stellten sie fest, dass „Menschen und Gruppen, die dem Leistungsprinzip in der Gesellschaft scheinbar willentlich und mutwillig zuwiderhandeln“ als „nutzlos, dumm oder faul“ abgewertet würden.
Diese Abwertung treffe in erste Linie arbeitslose oder obdachlose Menschen. Gerade Wohnungslose würden als störend im Stadtbild wahrgenommen, stellt die Studie fest. Knapp 20 Prozent der Befragten möchte bettelnde Wohnungslose aus den Fußgängerzonen entfernen lassen. In der Studie für die Jahre 2020/2021 waren es noch 13 Prozent. Knapp über 40 Prozent der Befragten möchte keine Obdachlosen im Alltag sehen.
Die Autor*innen stellen hinsichtlich der Ergebnisse der Befragung eine „soziale Dominanzorientierung“ fest, die mit der Befürwortung von Hierarchien und Autoritarismen einhergehe. Straf- und kontrollgeneigtes Denken seien weit verbreitet.
Es sind Einstellungen, die zu Taten führen. Die Täter*innen in Peine, die 21 und 31 Jahre alt sind, sollen zum Teil erheblich alkoholisiert gewesen sein. Im Strafverfahren gegen sie wird hoffentlich nicht allein der Alkoholpegel berücksichtigt werden.
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