55.000 Unterschriften für Religionsunterricht als Wahlpflichtfach: Die Kirchen und die Jüdische Gemeinde gehen in die Offensive
Der schleichende Kulturkampf in der Hauptstadt erreichte gestern Abend einen ersten Höhepunkt. Mit Sinn für öffentliche Gesten und Pathos übergaben die beiden Berliner Bischöfe, Wolfgang Huber (evangelisch) und Kardinal Georg Sterzinsky (katholisch), nach einem ökumenischen Gottesdienst in der Hedwigskathedrale unter der Überschrift „Wir wählen gern!“ im Roten Rathaus 55.000 Unterschriften an den Senat. Die Unterschreibenden plädieren darin an die Landesregierung, den geplanten verpflichtenden Werteunterricht nicht ohne Abwahlmöglichkeit zum Religionsunterricht zu lassen. Stattdessen fordern sie „von den politisch Verantwortlichen, eine Fächergruppe Ethik/Philosophie und Religionsunterricht einzuführen“, wie es im Aufruf heißt.
Nun fordern dies Kirchen und die Jüdische Gemeinde schon seit Monaten, die Übergabe ist also vor allem eine PR-Show. Außerdem unterschrieben den Aufruf noch nicht einmal die Eltern aller 115.000 Schülerinnen und Schüler, die derzeit schon freiwillig Religionsunterricht in ihrer Freizeit belegen. Andererseits ist die Liste der Erstunterzeichnenden schon recht eindrucksvoll: Die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin in spe, Angela Merkel, findet sich hier, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), Kulturstaatsministerin Christina Weiss (parteilos) und die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckhardt. Hinzu kommen Intellektuelle und Prominente wie Günter de Bruyn, Heinrich August Winkler, Ernst Benda, Sabine Christiansen und Ulrich Noethen.
Das zeigt: Die Pläne der Schulverwaltung für den verpflichtenden Werteunterricht ohne Abwahlmöglichkeit sind schon lange kein reines Berliner Thema mehr. Die seit Jahren verbissen geführte Auseinandersetzung um den Werteunterricht ist auf der bundespolitischen Agenda gelandet – kein Zufall, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ohne Not (und schon vor der Ankündigung von Neuwahlen) auf das Thema aufgesprungen ist – mit der für ihn erstaunlich klaren Aussage, er sei für eine Abwahlmöglichkeit, also ganz im Sinne der Kirchen und der Jüdischen Gemeinde.
Nun ist die Schröder’sche Ansicht nicht entscheidend, denn die Sache ist rein formal gesehen keine bundespolitischen Angelegenheit, das Schulwesen ist Ländersache. Das Grundgesetz aber schreibt einen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vor. Sicherlich ist das Land Berlin aus historischen Gründen von dieser klaren Bestimmung der Verfassung ausgenommen. Das aber war auch beim LER-Streit in Brandenburg ziemlich ähnlich – und trotzdem gab es am Ende nach einer Empfehlung des Bundesverfassungsgerichts de facto einen Wahlpflichtbereich LER oder Religion, genau das also, was Kirchen und die Jüdische Gemeinde in Berlin wollen.
Im multireligiösen und -kulturellen Berlin gibt es gute Gründe, eine Abwahlmöglichkeit auszuschließen – aber die Argumente für ein Wahlpflichtfach sind auch nicht ohne, etwa: In einem Wahlpflichtkanon habe der Staat mehr Eingriffsrechte in den umstrittenen Religionsunterricht der Islamischen Föderation.
Der evangelischen Landeskirche liegt nun ein Gutachten von Gerhard Robbers, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Trier, vor, das zum Urteil kommt: Das Land könne zwar den Werteunterricht einführen – jedoch nicht ohne Abwahlmöglichkeit. Das Gutachten will die Landeskirche jedoch nach eigenen Angaben erst in internen Gesprächen mit der Schulverwaltung nutzen, bevor es veröffentlicht werden soll. Auf einen solchen Dialog hoffen die Kirchen, nachdem die 55.000 Unterschriften ihre Wirkung getan haben. Der Entschluss der Landes-SPD von Anfang April für den verpflichtenden Werteunterricht ohne Abwahlmöglichkeit, so scheint es, war nicht das Ende der Diskussion, sondern erst der Anfang. PHILIPP GESSLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen