Verkehrszählungen in Berlin: Wo sind all die Autos hin?

Aktuelle Zahlen belegen zwar, dass der motorisierte Verkehr auf Berlins Straßen abgenommen hat. Andere Daten werfen aber Fragen auf.

Autos im Stau von hinten

Ist es leerer hier? Oder sieht es nur so aus? Foto: IMAGO / Jürgen Ritter

BERLIN taz | Die Daten sind verwirrend. Laut den Verkehrsmessungen der Senatsverwaltung für Mobilität gibt es einen deutlichen langfristigen Trend beim Kfz-Verkehr in der Stadt: An vielen Stellen nimmt er schon seit Jahren ab. Mit der Wahrnehmung vieler BerlinerInnen im Alltag will das nicht so recht zusammenpassen – aber können Zahlen lügen?

Geheim waren die Zählungen nie, aber durch eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Abgeordneten Antje Kapek kamen sie vor ein paar Wochen wieder einmal aufs Tapet. An 201 der 226 automatischen Zählstellen auf Hauptverkehrsstraßen, für die eine Zeitreihe über die letzten neun Jahre vorliegt, wurde ein Rückgang der sogenannten Durchschnittlichen Täglichen Verkehrsstärke (DTV) gemessen. Mal um wenige Prozent, mal um 30 oder sogar 40 Prozent.

Mit dem Coronaknick hat das offensichtlich nichts zu tun, auch wenn der sich zusätzlich in den Daten abbildet. Ein Beispiel: Auf der Schöneberger Hauptstraße etwa wurden 2015 noch 17.171 Kfz am Tag gezählt, 2023 waren es nur noch 12.433, ein Minus von rund 27 Prozent. Zwischendurch hatte die Zahl im Jahr 2021 bei nur 10.172 gelegen.

Für den Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin sind das hervorragende Nachrichten. In ganz Deutschland steige „die Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge an, doch unterm Strich werden immer weniger Kilometer zurückgelegt“, zitiert die Berliner Zeitung den Wissenschaftler. „Die nun bekannt gewordenen Zahlen für Berlin zeigen, dass die Fahrleistung des Kfz-Verkehrs in der Hauptstadt besonders deutlich gesunken ist.“

Die Zulassungszahlen, die Knie erwähnt, sind ein weiteres Puzzleteil, das sich nicht so klar ins Bild einordnet: Seit rund 20 Jahren gibt es jedes Jahr ganz offiziell mehr Kfz in Berlin. Waren es 2009 laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg noch 1,09 Millionen Pkw und rund 77.000 Lastkraftwagen, stiegen diese Zahlen bis 2023 auf 1,24 Millionen Pkw und 122.000 Lkw. Eine mögliche Interpretation: Immer mehr Haushalte und Betriebe schaffen sich Autos an, die aber am Ende des Tages mehr stehen und weniger fahren.

Das ließe sich ohne Weiteres mit Faktoren wie teureren Kraftstoffen, veränderten Gewohnheiten oder einem gestiegenen Umweltbewusstsein erklären. Die Frage ist allerdings: Wird unter dem Strich wirklich weniger gefahren? Der Verkehrsforscher Oliver Schwedes, zuletzt Professor an der Technischen Universität Berlin, sagt: „Es gibt einen Unterschied zwischen dem Verkehrsaufkommen, das an den Zählstellen ermittelt wird, und der Verkehrsleistung.“ Bei Letzterer gehe es nicht nur um die Anzahl der Wege, die mit dem Auto zurückgelegt werden, sondern auch darum, wie viele Kilometer die einzelnen Autos fahren. „Diese Zahl ist deutlich gestiegen.“

Tatsächlich gibt die Senatsverwaltung für Mobilität die gesamte Fahrleistung aller Berliner Kraftfahrzeuge für das Jahr 2019 (für das die jüngsten Zahlen vorliegen) mit 27,8 Millionen Kilometern an. Das ist zwar weniger als 2005 – da waren es noch 29,2 Millionen Kilometer –, aber immerhin genauso viel wie 2009. Oliver Schwedes verweist auf den stark angestiegenen Pendelverkehr zwischen Berlin und dem Umland: „Über 60 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen heute pendeln. Die Entfernungen sind dabei überall gewachsen, aber Berlin ist der Spitzenreiter.“

Auf die Kilometer kommt es an

Wenn viele Autos weniger oft, dafür aber längere Strecken fahren, haben zumindest die Umwelt und das Klima nicht allzu viel davon. „Hier ist die Verkehrsleistung die entscheidende Größe, denn die gefahrenen Kilometer erzeugen die negativen externen Effekte“, sagt Schwedes.

Auf den Berliner Autobahnen, auf denen die Bundesanstalt für Straßenwesen Fahrzeuge zählt, ist das Bild dann auch nicht so eindeutig: Es gibt in der Zeitreihe Schwankungen, aber keine klare Abnahme. Am Autobahndreieck Neukölln etwa wurden 2015 noch 100.000 Pkw und 5.600 Lkw pro Tag gezählt, 2021 waren es dann 105.000 Pkw und 6.400 Lkw. An der Anschlussstelle Friedenau sank das Pkw-Aufkommen leicht von 139.500 (2015) auf 135.000, die Zahl der Lkw stieg dagegen von 7.800 auf 8.200.

Für die viel zitierte Faustregel „Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten“ scheint auf Grundlage all dieser Zahlen jedenfalls nicht besonders viel zu sprechen – zumindest nicht im Binnenverkehr der Stadt. So belegt die Statistik etwa seit der Eröffnung der A113 zum Flughafen Schönefeld im Jahr 2010 keine Zunahme des Verkehrsaufkommens in den umliegenden Ortsteilen – im Gegenteil.

Es gibt aber noch einen weiteren möglichen Faktor für das sinkende Aufkommen an den Zählstellen, zumindest theoretisch: In den vergangenen zehn Jahren haben sich Navigationssysteme wie Google Maps massenhaft durchgesetzt. Diese Systeme bilden die Verkehrsdichte dabei immer zuverlässiger live ab und lotsen viele AutofahrerInnen auf Alternativrouten, wenn die Hauptverkehrsstraßen verstopft sind.

Das wiederum könnte dazu beitragen, dass die ebendort installierten Zählsensoren dann auch weniger häufig anschlagen. Wohlgemerkt: könnte. Denn brauchbare empirische Daten liegen dazu nach Auskunft mehrerer befragter VerkehrsexpertInnen nicht vor.

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