Ein Jahr Haft von Evan Gershkovich: Im Wartezimmer der Ungewissheit

Seit März 2023 sitzt der US-Journalist im berüchtigten Moskauer Lefortowo-Gefängnis. Und das nur, weil der wahre Verbrecher Russland regiert.

Evan Gershkovich vor Gericht.

Wall Street Journal Reporter Evan Gershkovich vor Gericht in Moskau im Oktober 2023 Foto: Evgenia Novozhenina/reuters

„Über Russland zu berichten, heißt, jetzt auch regelmäßig zu beobachten, wie Leute, die man kennt, jahrelang weggesperrt werden.“ Diesen Satz schrieb Evan Gershkovich im Juli 2022 auf Twitter, jetzt X. Ein Satz, der angesichts dessen, was Gershkovich selbst nicht mal ein Jahr später widerfahren sollte, prophetisch und absurd wirkt.

Am 29. März 2023 wurde Evan Gershkovich, US-amerikanischer Journalist für das Wall Street Journal, von russischen Sicherheitskräften vor einem Steakhouse in Jekaterinburg festgenommen. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB wirft ihm Spionage vor. Er soll Staatsgeheimnisse gesammelt haben. Damit ist Gershkovich der erste amerikanische Journalist, der seit dem Kalten Krieg in Russland der Spionage beschuldigt wird.

Seit diesem Tag, also seit bald einem Jahr, sitzt der 32-Jährige in Untersuchungshaft im berüchtigten Moskauer Lefortowo-Gefängnis; ein Schreckensort in der russischen Geschichte, der traditionell darauf abzielt, seine Gefangenen psychisch mürbe zu machen, in dem sie voneinander isoliert und von der Außenwelt abgeschnitten werden.

Sein Schicksal geht mir nah

Ich kenne Gershkovich nicht persönlich, wir teilen wenige Bekannte, aber sein Schicksal geht mir nah. Wie auch meine Familie verließen seine Eltern die Sowjetunion – aus Sorge vor steigendem Antisemitismus und weil sie sich ein besseres, freieres Leben erhofften. Meine Familie emigrierte in den 1990er Jahren nach Deutschland. Ella Milman und Mikhail Gershkovich bereits 1979, in die USA. Sie aus St. Petersburg, er aus Odessa. Ella und Mikhail gründeten eine Familie, bekamen Danielle, Evans Schwester, und dann ihn. Die beiden Kinder wuchsen als Amerikaner auf, sprachen Russisch zu Hause. Sie lebten in Sicherheit. So, wie es sich die Eltern immer gewünscht hatten.

Gershkovich sah es als seine Aufgabe an, auch dann noch aus Russland zu berichten, als viele andere Kollegen das Land längst verlassen mussten. Nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine zog er zwar nach London, kehrte kurz darauf aber immer wieder zurück, um zu berichten. Freunden erzählte er später, er sei gelegentlich verfolgt worden. Aber einschüchtern lassen wollte er sich davon nicht.

Fast ein Jahr ist Evan Gershkovich schon ein politischer Gefangener des russischen Re­gimes, angeführt von Wladimir Putin. Für ihn ist der Journalist nur menschliche Verhandlungsmasse, ein Druckmittel, die er missbraucht gegen die USA. Und Putin führt sein widerwärtiges, menschenverachtendes Unterdrückungssystem weiter, lässt Menschen einsperren, die wie Gershkovich nichts anderes taten, als die Wahrheit in die Welt zu tragen.

Kurze Hoffnung

Im vergangenen Jahr kam Bewegung in den Fall. Ein möglicher Austausch: Gershkovich gegen den sogenannten Tiergartenmörder Wadim Krassikov, der seine lebenslange Haftstrafe in Deutschland vebüßt. Und Alexei Nawalny soll eine Rolle gespielt haben, heißt es mittlerweile von Nawalnys Team, nachdem er in Gefangenschaft zu Tode gekommen ist. Putin soll zuvor einem Tausch zugestimmt haben: Krassikow gegen Nawalny und zwei US-Amerikaner, Gershkovich und Paul Whelan (seit 2018 in russischer Haft). Die deutschen Behörden haben sich dazu bislang nicht geäußert.

Spätestens seit diese mutmaßliche Möglichkeit in der Welt ist, eine, die mit Nawalnys Tod sogleich wieder erloschen ist, ist in mir das Gefühl absoluter Hoffnungslosigkeit größer als je zuvor. Evan Gershkovich ist kein Verbrecher, sondern Journalist, und sitzt vor Gericht dennoch jedes Mal in einem Metallkäfig oder hinter Glas, während der wahre Verbrecher in seinen prunkvollen Residenzen sitzt.

„Evan, bleib stark!“, rief ihm ein Kollege im Gerichtssaal im vergangenen Jahr zu. Evan lächelte. Evan muss stark bleiben, ja. Und er muss endlich aus dem Wartezimmer der Ungewissheit, seiner Zelle, in die Freiheit entlassen werden.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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