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Gemütslage vor der Fußball-EMGesundbeten für Fortgeschrittene

100 Tage vor der Fußball-EM ist die Stimmung eher mies. Das hält die Organisatoren nicht davon ab, von einem Sommermärchen 2.0 zu träumen.

„Bei der WM 2006 habe ich selbst erfahren, wie sehr ein Turnier im eigenen Land die Menschen begeistern kann“, sagt Philipp Lahm Foto: Action Pictures/imago

In wenigen Wochen wird die Umgebung anders aussehen. Etwas bunter. Wenn erst einmal der Frühling den Frankfurter Stadtwald erreicht, die Tage länger und wärmer werden, dann liegt die Orga-Zentrale für die Fußball-EM 2024 im zweigeschossigen Anbau der früheren DFB-Zentrale in der Otto-Fleck-Schneise mitten in einer grünen Wohlfühloase. So ähnlich soll es mit der von hier gesteuerten Endrunde (14. Juni bis 14. Juli) werden. Aber 100 Tage vorm Startschuss will der graue Schleier, der über dem Turnier liegt, nicht weichen.

Begeisterung und Vorfreude auf das Sportereignis sind kaum vorhanden. Die Macher der EM sehen das freilich anders. Markus Stenger, Geschäftsführer der Euro 2024 GmbH, sagte erst kürzlich auf dem Sportbusinesskongress Spobis in Hamburg: „Das Ausland hat wahnsinnig viel Lust. Da verspüren wir eine wahnsinnige Vorfreude – teilweise stärker als im Inland.“

Doch auch Stengers Sorgenfalten sind größer geworden. Neben der Mobilität sei die Sicherheit „mit Blick auf die geopolitische Weltlage eine herausfordernde Geschichte“, sagte er. „Es ist noch nichts verrutscht, aber wir haben noch jede Menge zu tun. Alles steht und fällt mit der Sicherheit.“ Wie also soll das vielzitierte Sommermärchen 2.0 eigentlich zustande kommen?

Die Antwort muss zuerst lauten, dass es vor der WM 2006 zum vergleichbaren Zeitpunkt ja kaum besser war. Die Stiftung Warentest versetzte das Land damals zu Jahresbeginn in hellen Aufruhr, weil die von viel Steuergeld gebauten neuen Arenen angeblich „teilweise beträchtliche Sicherheitslücken“ aufwiesen. Man nörgelte halt schon damals gerne: über zu viele Karten für VIPs und Sponsoren; über angebliche Datenlecks bei den WM-Tickets und natürlich über eine Natio­nalmannschaft, die sich mit einem 1:4 gegen Italien in Florenz eine Klatsche abholte.

Abhängigkeit von der Uefa

Das alles war kein Thema mehr, als mit dem Eröffnungsspiel am 9. Juni 2006 in München der Verteidiger Philipp Lahm trotz eines kaputten Arms den Ball gegen Costa Rica in den Winkel jagte. Ab diesem Tag schien in ganz Deutschland die Sonne. Und die Welt war wirklich zu Gast bei Freunden.

Heute ist der WM-Kunstschütze der EM-Turnierdirektor. „Bei der WM 2006 habe ich selbst erfahren, wie sehr ein Turnier im eigenen Land die Menschen begeistern kann. Deutschland hat sich als gastfreundliches Land und guter Organisator präsentiert“, beteuert Lahm. Er sei sich sicher, „dass auch die Euro 2024 ein Ereignis werden kann, das die Menschen in Deutschland und Europa begeistert und zusammenbringt“.

Nur alles ist eben nicht vergleichbar, und das geht bei der Orga-Truppe schon mal los, die 2024 als Joint Venture zwischen DFB und Uefa angelegt ist. 2006 hielt das deutsche OK die Strippen in der Hand. „Wir konnten uns sechs Partner als nationale Sponsoren suchen“, erinnert DFB-Präsident Bernd Neuendorf.

Genau wie Lahm versucht sich der Verbandschef als Gesundbeter. Ihm gefällt es nicht, wenn „die Stimmung in den Keller geredet wird“. Er wehre sich zwar dagegen, dass der „Fußball als Allheilmittel“ tauge, aber „Abwechslung, Zuversicht, Freude und Stolz“ solle das Turnier schon stiften. Es hätte nicht 150.000 Bewerbungen aus aller Welt auf die 16.000 Volunteer-Plätze gegeben, führte der frühere SPD-Politiker aus, wenn „sich nicht so viele Menschen mit dem Turnier in Verbindung setzen wollen“.

Gleichwohl merke er, wie die „multikrisenhafte Situation auf die Stimmung drückt“. Die gesellschaftspolitische Kontroverse, da viele Menschen hierzulande bei wichtigen Zukunftsfragen wie Energieversorgung, Klimaschutz oder Zuwanderung nicht zusammenfinden können, setzt sich auf die angespannte Weltlage mit Ukrainekrieg und Nahostkonflikt drauf. Davon soll der Fußball ablenken, sogar Klebstoff liefern.

Die EM-Organisatoren bedauern, dass die Bundesregierung auf der Bremse steht. „Man hätte mehr aus dem Turnier machen können“, kritisierte Stenger erneut. Die Säule Transport wackelt, weil Flug- und Bahnverkehr – nicht nur streikbedingt – gefühlt so unzuverlässig wie nie zuvor sind. Auch die Großbaustellen auf vielen Autobahnen sind natürlich nicht rechtzeitig beseitigt. Ausrichterstädte könnten einen Ansturm erleben, der die Kapazitäten von Fanzonen und Innenstädten sprengt.

Adidas-Chef Björn Gulden erwartet nicht weniger als „ein Volksfest wie 2006, vielleicht sogar besser“. Der Konzernboss, auf dessen Gelände in Herzogenaurach die deutsche Na­tio­nalmannschaft während des Turniers logiert, erinnert an die „bombastische Stimmung“ jüngst bei der Handball-WM. Warum soll das nicht auch die Fußball-EM prägen? Auf den Halbfinaleinzug der DFB-Auswahl will der Norweger übrigens „eine Flasche Wein“ wetten.

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