Nach dem Tod von Alexei Nawalny: Suche nach dem verlorenen Sohn
Die russische Behörden halten die Leiche des Kremlkritikers Alexei Nawalny weiter zurück. Auch seine Mutter wird zum wiederholten Male abgewiesen.
Hier, hinter den Mauern der „Besserungskolonie Nummer 3“ des Dörfchens Charp, endete am vergangenen Freitag plötzlich das Leben ihres Sohnes, des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Wo sein Leichnam ist, weiß die Mutter derweil immer noch nicht.
Ljudmila Nawalnaja ist keine, die den Umgang mit Behörden scheut. Sie kennt sie, seit Jahren. Stunden verbrachte sie in russischen Gerichten und saß auf Holzbänken in der Ecke. Sie hörte zu und versuchte zu verstehen, was Richter*innen in Verhandlungen vor sich hinnuschelten, was sie ihrem Aljoscha (so der Kurzname von Alexei), dem Hoffnungsträger so vieler Russ*innen, vorwarfen.
Es waren so viele absurde Vorhaltungen, selbst für Juristen und Juristinnen kaum nachvollziehbar. Die 69-Jährige ertrug die staatlichen Erniedrigungen gegen ihren Sohn und mied die Öffentlichkeit. Nun steht sie selbst in dieser Öffentlichkeit, die sie auf ihrer unermüdlichen Suche nach dem Leichnam ihres Jungen begleitet.
Über 55.000 Unterschriften
Nach russischem Recht sind die Gefängnisbehörden dazu verpflichtet, den Leichnam eines in Haft Verstorbenen an die Angehörigen herauszugeben. So steht es in der Anordnung Nummer 93 des Justizministeriums aus dem Jahr 2005. Nur zwei Gründe lässt die Anordnung zu, dies nicht zu tun: Wenn der Häftling das vorher äußert oder die Angehörigen sich entweder weigern, die Leiche abzuholen oder gar nicht gefunden werden.
Nawalnys Angehörige aber kämpfen um die Herausgabe, genauso wie mittlerweile mehr als 55.000 Menschen in einer Petition. Die Behörden sprechen derweil von einer „verlängerten Überprüfung der Leiche“, die Todesursache sei „nicht geklärt“, hieß es vom Untersuchungsausschuss des russischen Ermittlungskomitees.
„Am frühen Morgen trafen Alexeis Mutter und ihre Anwälte im Leichenschauhaus ein. Rein durften sie nicht. Einer der Anwälte wurde regelrecht rausgedrängt. Auf die Frage, ob Alexeis Leiche da sei, sagen die Mitarbeiter nichts“, schrieb Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch auf X, ehemals Twitter.
Iwan Schdanow, der Leiter von Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK (in Russland für „extremistisch“ erklärt), erinnert das Katz-und-Maus-Spiel an die Tage nach Nawalnys Vergiftung im August 2020. Auch damals seien die Fristen immer wieder verlängert, Nawalnys Kleider nicht herausgegeben worden. „Sie sagen, sie seien interessiert daran, alles so schnell wie möglich zu erledigen. Diese prinzipienlosen Lakaien lügen unverhohlen. Ist doch klar, was sie jetzt tun. Die Spuren ihres Verbrechens beseitigen“, schrieb er auf X.
Russischer Botschafter einbestellt
Das russische Medienportal Mediazona veröffentlichte Bilder von Überwachungskameras zwischen Labytnangi und der Regionalhauptstadt Salechard. Darauf ist zu sehen, wie eine Wagenkolonne der Gefängnisbehörde in der Nacht zum 17. Februar diesen einzigen Zugang von Charp nach Salechard über den vereisten Fluss Ob passiert.
Die Journalist*innen gehen davon aus, dass Nawalnys Leichnam in einem Kleinbus dieser Kolonne aus der Strafkolonie hinausgebracht wurde. Im Kreml hieß es, es sei „nicht die Aufgabe der Präsidialverwaltung, sich um die Frage nach der Herausgabe einer Leiche“ zu kümmern. „Alle gesetzlich erforderlichen Maßnahmen werden unternommen“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Das Auswärtige Amt bestellte am Montag den russischen Botschafter ein. Die politisch motivierten Verfahren gegen Nawalny und andere Oppositionelle sowie die unmenschlichen Haftbedingungen zeigten, wie brutal die russische Justiz gegen Andersdenkende vorgehe, sagte eine Sprecherin von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Putin versuche die eigene Bevölkerung mundtot zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch