Selbstbestimmt altern: Indiskret und unbescheiden

Mit 69 Jahren lässt sich Schlagzeugerin Lindy Morrison im kurzen Kleid fotografieren. Ihre Weiblichkeit endet nicht mit dem Verlust der Jugend.

Eine Frau sitzt ungewöhnlich auf einem Sessel

Lindy Morrison, ehemalige Schlagzeugerin der Popband The Go-Betweens Foto: James Brickwood/Sydney Morning Herald

BREMEN taz | Dieses Foto. Diese Frau. Wie sie sich mit ihren langen Beinen in den Sessel faltet, in einem kurzen Sommerkleid, das den Blick freigibt auf etwas, was so selten zu sehen ist: die Haut einer alten Frau. Kein Tüll kaschiert die schlaffen Arme, kein Stehkragen verdeckt den knittrigen Hals, am Oberschenkel sind Krampfadern zu erkennen.

Ja, sie ist geschminkt, blondiert, dazu schlank und gebräunt. Und ja, das Foto wurde bearbeitet, Arme und Beine optisch geglättet. Trotzdem versucht sie nicht, jünger auszusehen als die 69, die sie zum Zeitpunkt der Aufnahme ist. Sie hilft nicht mit Operationen, Injektionen oder Tonnen von Make-up nach. Das würde nicht zu ihr passen.

Dieser Text ist Teil der Sonderausgabe zum feministischen Kampftag am 8. März 2024, in der wir uns mit den Themen Schönheit und Selbstbestimmung beschäftigen. Weitere Texte finden Sie hier in unserem Schwerpunkt Feministischer Kapmpftag.

Abgebildet ist Lindy Morrison, die ehemalige Schlagzeugerin der Popband The Go-Betweens, gegründet 1977 im australischen Brisbane. Das Foto entstand vor drei Jahren anlässlich der Berichterstattung über ein Buch, das die Musikerin und Autorin Tracey Thorn über sie geschrieben hat.

„My Rock ’n’ Roll Friend“ heißt es und es erzählt von der Freundschaft der beiden Frauen, die sich in einer von Männern dominierten Musikindustrie behaupten mussten. In erster Linie geht es aber um Morrison. Ihre Geschichte ist wie das Foto: ein Spagat zwischen der Notwendigkeit, das abgekartete Spiel Patriarchat mitspielen zu müssen – und gleichzeitig neue Regeln zu erfinden.

Ein Vorbild für alternde Frauen

Damit eignet sie sich als Vorbild für alternde Frauen. Ein solches hatte etwa im Dezember die Zeit-Literaturkritikerin Iris Radisch in einem Essay vermisst. „Von guten Erzählungen hängt sehr viel ab“, schrieb sie. „Sie haben Macht über unsere Biografien. Je nachdem, wie sie ausfallen und wie überzeugend sie erzählt werden, prägen sie unser Leben, so dass siebzigjährige Männer durchaus Medienimperien führen können, während siebzigjährige Frauen nicht einmal mehr in einer Kochsendung in den Töpfen rühren dürfen.“

Lindy Morrison hat sich nie darum geschert, was sie darf und was nicht. Sie hat es einfach getan, ohne sich dafür zu entschuldigen. „Nichts davon macht sie so, wie es eine Frau machen soll“, heißt es an einer Stelle, hier ins Deutsche übersetzt, im Buch. Es geht um Morrisons Art, Schlagzeug zu spielen: kraftvoll, schwitzend, mit breit gespreizten Beinen wie Männer in der U-Bahn. Dass sie überhaupt Schlagzeug spielt, ist ungewöhnlich.

Selbst heute, 35 Jahre nach Auflösung der Go-Betweens, ohne Morrisons Einverständnis, fungieren Frauen in erfolgreichen Bands immer noch meistens als Sängerinnen, sehr selten als Schlagzeugerinnen. Dabei hatte sich Morrison für das Instrument entschieden, weil sie keinen Mann fragen musste, wie es funktioniert, schreibt Tracey Thorn und nennt das Spiel ihrer Freundin „indiskret und unbescheiden“. Das gilt für die ganze Person. Schon ihr Vater hatte ihr prophezeit, sie würde nie einen Mann finden, wenn sie nicht zurückhaltender auftreten würde.

Die zweite Seele von Lindy Morrison

Er behielt insofern recht, als sie sich nie mit der Rolle einer umsorgenden Gattin zufriedengab, wie es ihre Mutter war. Mit 21 fing sie als einzige Weiße als Sozialarbeiterin bei einer Aborigines-Organisation an, lebte später mit lesbischen Punk-Musikerinnen zusammen und stieß von dort zu den Go-Betweens, mit deren Sänger sie sieben Jahre eine Beziehung führte. Weil sie aber nie nur lieb lächelnd neben ihm saß, sondern sagte, was sie dachte, zum Beispiel über Sexismus, galt sie nicht nur ihren Bandkollegen, sondern auch männlichen Journalisten als anstrengend.

Es gibt eine zweite Seite von Lindy Morrison. Man kann sie im Foto suchen und in ihrem abgewandten Blick finden. Sie schaut nicht etwas oder jemand anderen an. Sie schaut weg. Drückt das ihr Unbehagen aus? Weil sie weiß, wie sie auf dem Foto aussehen wird, und sie es sich anders wünscht? Wie so viele heterosexuelle postmenopausale Frauen, die sich erst darüber wundern, dass sie alt werden und damit weniger attraktiv für Männer. Und dann darüber, dass sie das mehr verunsichert, als sie sich es je hätten vorstellen können.

Verletzlich und wahrhaftig

Auch Lindy Morrison ist nicht so cool, wie sie sie gerne hätte, gesteht sich Tracey Thorn nach der Hälfte des Buchs ein. Jahrzehntelang wollte Thorn nicht wahrhaben, dass ihre Heldin genau wie sie das Gefühl kennt, hässlich und ungenügend zu sein, dass sie eigentlich (Männern) gefallen möchte, es ihr aber selten gelingt, weil sie sich laut ihrer Biografin einfach nicht verbiegen kann. „Ihr fehlt die Fähigkeit, sich selbst zu zensieren.“

Vielleicht lässt sie sich deshalb mit 69 Jahren im kurzen Kleid fotografieren, anders als viele andere prominente Frauen, von denen sich manche im Alter ganz aus der Öffentlichkeit zurückziehen.

Nicht so Lindy Morrison. Sie tritt auch heute noch als Schlagzeugerin auf und kämpft für bessere Arbeitsbedingungen in der Musikindustrie, mit 59 absolvierte sie ein Jurastudium. Die Erzählung bricht nicht mit dem Verlust jugendlicher Schönheit ab.

„Auf jedem Foto“, heißt es im Buch über frühere Aufnahmen von ihr, „sticht sie heraus, sowohl verletzlich als auch wahrhaftig“.

Dieses Foto, diese Frau. Verletzlich und wahrhaftig. Zeig deine faltige Haut.

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