Fettaktivistin über Stereotype: „Man darf meine Bauchfalte sehen“

Luise Demirden kämpft gegen Gewichtsdiskriminierung. Ein Gespräch über kurze Tops, den Hype um Abnehmspritzen – und über die Worte „dick“ und „fett“.

Eine scharz gekleidetet Frau mit pinkfarbener Jacke, langem scharzem Rock und durchsichtigem Oberteil steht auf einem Sportplatz

Setzt sich für eine Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes ein: Luise Demirden Foto: Piotr Pietrus

Wir haben uns während unseres Studiums in Mainz kennengelernt. Jetzt sehen wir uns nach längerer Zeit in Berlin wieder, wo Luise Demirden gerade hingezogen ist. Zu unserem Treffen am späten Vormittag in Friedrichshain hat sie ihren kleinen, zotteligen Hund Hugo mitgebracht. Er trinkt Wasser, wir trinken Kaffee. Über ihre eigenen Erfahrungen spricht Luise mit Bestimmtheit, über Vorurteile mit entlarvendem Witz. Zu unseren Füßen hat sich Hugo zum Schlafen eingerollt.

wochentaz: Luise, du bezeichnest dich selbst als fett. In der Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich die Begriffe „dick“ und „fett“ immer wieder gelesen und bemerkt, dass ich als dünner Mensch Hemmungen habe, sie zu benutzen. Woran liegt das?

Luise Demirden: In unserer Gesellschaft sind beide Worte negativ belegt. Es gibt mehrgewichtige Menschen, die sie deswegen nicht für sich nutzen wollen. Im Fettaktivismus gibt es aber einen ziemlichen Konsens darüber, dass das wertfreie Begriffe sind. Auch über dich kann ich ja sagen, dass du dünn bist – ohne dass wir beide einen Herzschlag bekommen.

Welche Beziehung hast du selbst zu dem Wort?

Früher hatte ich große Angst vor dem Begriff. Dann habe ich irgendwann festgestellt, wie befreiend es ist, mir das Wort anzueignen. Ich muss jetzt keine Angst mehr davor haben, dass mich Leute fett nennen. Ich nenne mich selbst so. Wenn ich jetzt über die Straße laufe und jemand ruft mir „Fette Sau“ hinterher, was manchmal passiert, kann ich das gar nicht mehr richtig ernst nehmen. Die Macht, die diese Leute mit dem Wort über mich hatten, ist weg.

Du arbeitest für die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung, die sich 2016 in Berlin gegründet hat. Wie sieht eure Arbeit aus?

Ich bin dort als Fachreferentin für Weiterbildung tätig, zum Beispiel für Beratungsstellen rund um das Thema Diskriminierung. Uns als Organisation geht es darum, die Politik über Gewichtsdiskriminierung zu informieren und uns dafür einzusetzen, dass sie ernst genommen wird. Wir kämpfen für eine Erweiterung des Antidiskriminierungsgesetzes um das Merkmal Gewicht.

Du warst schon als Kind dick. Wie war das für dich?

Ich wusste schon in der Grundschule, wie viel Kilo ich abnehmen müsste, um nicht mehr dick zu sein. Die erste Diät habe ich dann mit zwölf gemacht. Das war eine Nulldiät, nur Gemüsebrühe tagein, tagaus. Ich wurde auch wegen des Gewichts gemobbt. Bei mir hat das dazu geführt, dass ich keinen gesunden Zugang mehr zum Essen gefunden habe. Und schon damals war ich darauf bedacht, wo ich mich als dickes Kind wie bewegen kann. Es gab so viele Sachen, die ich mich nicht getraut habe.

Was war das zum Beispiel?

Klettern oder Kanu fahren auf Schulausflügen etwa. Da musste man sein Gewicht angeben, weil man gesichert wurde oder eine passende Schwimmweste brauchte. Vor diesen Aktivitäten ist mir oft schlecht geworden – was natürlich psychische Gründe hatte. Ich wurde als trotzig wahrgenommen, und man dachte, ich wolle nicht mitmachen. So werden dicke Kinder oft wahrgenommen. Ihnen wird nicht zugestanden, dass sie sich nicht wohlfühlen oder Angst haben.

Gab es in deinem Leben einen Wendepunkt, an dem du das Verhältnis zu deinem Körper verändert hast?

Ich habe bemerkt, dass ich noch als Erwachsene viele Dinge nicht gemacht habe, mein Leben nicht auskostete – weil ich dachte, ich hätte mit diesem Körper nicht das Recht dazu. Das hat alle Bereiche meines Lebens beeinflusst. Ob das Dating war, Freizeitgestaltung oder wie ich über mich selbst geredet habe. Ich hatte immer diese To-do-Liste im Kopf, auf der ganz oben stand: abnehmen. Jedes Jahr. Immer und immer wieder, eine Diät nach der anderen. Ganz viele Sachen waren damit verbunden. Erst wenn ich abgenommen habe, kann ich reisen, tanzen, schwimmen gehen.

Du hast also in vielen Momenten deines Lebens die Pausetaste gedrückt – mit dem richtigen Gewicht würde es dann weitergehen.

Genau. Mit Mitte 20 war ich aber erschöpft davon. Und dann habe ich zufällig einen Artikel gelesen über ein fettes Model, Tess Holliday. Ein Model mit einem Körper, der meinem ähnlich ist. Sie hatte sich in Dessous fotografieren lassen. Erst mal war ich schockiert. Ich dachte: Darf man das, ist das erlaubt? Sie erzählte, wie sie sich einfach das Recht nimmt, sich schön zu finden. Da hat es bei mir Klick gemacht. Warte mal, dachte ich, gibt es da vielleicht eine Welt, in der fette Menschen einfach ihr Leben leben?

Heute sagst du, du denkst aus einer politischen Perspektive über Gewicht nach.

Und das fing mit einem politischen Zugang zu Schönheit an. Ich habe mich gefragt, warum eigentlich nur manche Körper in dieser Gesellschaft als schön gelten. Ich wollte Mode für mich, ich wollte Körper sehen, die wie meine sind. Und ich glaube, das ist ein ganz typischer Zugang für viele Leute, die sich dann auch politisch mit Körper und Gewicht auseinandersetzen.

wurde 1991 im Ruhrgebiet geboren. Sie hat eine Ausbildung zur Rettungsassistentin absolviert und in Mainz Politikwissenschaften studiert. Für die Aids-Hilfe Kassel war sie in der politischen Bildungsarbeit tätig. Aktuell arbeitet sie als Fachreferentin für Weiterbildung für die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung und hält Vorträge und Workshops zum Thema Fettfeindlichkeit, Dicksein und Gesundheit. Auf Instagram engagiert sich Luise Demirden für Körper­diversität und gegen Unter­drückung. Sie träumt von einer Zukunft, in der alle Körper frei von Diskriminierung leben können.

Was verbindet man in unserer Gesellschaft mit dem Dick- und Dünnsein?

Dünn sein und dünn zu bleiben ist in dieser Gesellschaft eine Leistung, die du erbringst. Zumindest wird das so wahrgenommen. Ein dünner Körper ist unter Kontrolle, der Geist steht über dem Körper. Dünn sein, das heißt auch, erfolgreich, sportlich und gesund zu sein.

Und auch, gut zu sein, oder?

Ja, beide Begriffe sind moralisch aufgeladen. Ein dicker Körper dagegen ist ungebändigte Natur, er macht, was er will. Dick sein wird mit Krankheit, Armut und Faulheit verbunden, damit, ungebildet und unhygienisch zu sein.

Du bist auf Instagram sehr aktiv und berichtest dort, in welchen Situationen du aufgrund des Gewichts diskriminiert wirst. Da geht es zum Beispiel um Mobilität.

Das ist ein großes Thema. Sitzplätze im Bus oder Flugzeug sind nicht für alle Menschen gemacht. Auch in die gängigen Sicherheitsgurte passen nicht alle rein. Ich hatte im Auto schon so oft Angst, dass der Gurt nicht passt. Und was mache ich dann? Das entscheidet ja im Zweifelsfall über Leben und Tod. Beim Einkaufen gibt es ebenfalls Barrieren. Schmale Gänge in Klamottenläden zum Beispiel, wo auch kein Rollstuhl durchpassen würde. Die meisten Läden haben ihre großen Größen außerdem ins Internet verlegt. Dicke Menschen sollen also offensichtlich nicht in diesen Geschäften sein. Dazu kommt noch das Thema Gesundheit, das für mich und viele fette Menschen ein riesiges ist.

Inwiefern?

Es ist so schwierig, als fette Person gesundheitlich gut versorgt zu werden. Fettsein wird stark mit Krankheit verbunden. Deshalb wird einem immer wieder nahegelegt abzunehmen. Obwohl das keine medizinische Behandlung ist und Diäten nachweislich bei der langfristigen Gewichtsabnahme nicht funktionieren. Wenn alles auf das Gewicht geschoben wird, werden echte Beschwerden nicht ernst genommen. Das führt oft zu Fehldiagnosen oder zu spät entdeckten Krankheiten. Zum Beispiel fassen Ärz­t*in­nen fette Menschen bei Untersuchungen weniger gerne an, auch das ist belegt. Obwohl es in meiner Familie Fälle von Brustkrebs gibt, muss ich das Abtasten der Brust immer wieder explizit einfordern.

Dicken oder fetten Menschen werden ihre Kilos oft vorgeworfen. Ist man denn nicht verantwortlich für sein eigenes Gewicht?

Ich würde sagen: Nein. Studien haben gezeigt, dass das Gewicht nicht viel variabler ist als die Körpergröße. Und Genetik hat verdammt viel damit zu tun, wie sich unser Körper verhält. Wir alle kennen die Erzählung: Weniger essen, mehr Sport – und dann bist du dünn. Schauen wir uns aber Studien dazu an, sehen wir, dass Diäten bei einer Mehrheit an Menschen langfristig nicht funktionieren. Fette Menschen werten das oft als persönliches Versagen. Dabei sollte es egal sein, ob ich für mein Gewicht verantwortlich bin oder nicht. Das darf keine Rolle dabei spielen, gut gesundheitlich versorgt zu sein und sich frei bewegen zu dürfen. Wir alle haben ein Recht auf Lebensqualität.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts konzentrieren sich Ärz­t*in­nen besonders auf das Körpergewicht als Indikator für individuelle Gesundheit. Ist das falsch?

Jein. Wir wissen, dass Körpergewicht ein gesundheitlicher Faktor von vielen sein kann, der aber stark fokussiert und problematisiert wird. Mehrgewicht kann bestimmte Risiken bergen, zum Beispiel für die Gelenke. Aber wenn wir das wissen: Warum ist die Gesundheitsversorgung dann nicht umso mehr darauf erpicht, fette Menschen darin zu unterstützen, ihr Leben zu leben? Schmerzfrei und autonom. Die Idee vom Abnehmen legt sich so sehr über alle anderen Möglichkeiten, die man hätte, die gesundheitliche Si­tua­tion von fetten Menschen positiv zu beeinflussen.

2023 gab es einen Hype um Abnehmspritzen. Würdest du zu solchen Präparaten greifen?

Als ich gelesen habe, dass es diese Spritzen gibt, gab es in mir diese Stimme, die dachte: Wie cool. Auch mir würden sich damit mehr Räume eröffnen, ich wäre sicherer in der Öffentlichkeit, müsste für Klamotten weniger Geld ausgeben. Ich würde es trotzdem nicht machen und sehe den Trend kritisch.

Warum?

Ich bin dagegen, dass fette und dicke Körper verdrängt werden und Körperdiversität eingeschränkt wird. Denn eigentlich leiden alle in dieser Gesellschaft unter Gewichtsdiskriminierung. Auch dünne Menschen gehen durch Diä­ten, schämen sich für bestimmte Teile ihres Körpers und haben Angst, dick zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich unser Körper im Laufe unseres Lebens verändert, liegt bei einhundert Prozent. Deshalb lohnt es sich, für diese Diversität zu kämpfen.

Können sich Betroffene gegen die erlebte Diskriminierung wehren?

Im Antidiskriminierungsgesetz ist das Gewicht als Diskriminierungsgrund nicht aufgeführt. Das heißt: Wenn ich jetzt gefeuert werde, weil ich fett bin, kann ich mich nur schwer dagegen wehren. Deshalb streiten wir als Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung für eine Reform des Gesetzes. Mich persönlich hat es wehrhaft gemacht, mich mit dicken und fetten Menschen zu verbünden und diesen Rückhalt zu spüren. Allein kann niemand gegen irgendetwas kämpfen.

Du berichtest online auch von übergriffiger Anmache gegen dicke und fette Frauen und thematisierst se­xua­li­sier­te Gewalt.

Mich machen Männer in der Erwartung an, dass ich keine anderen Op­tio­nen hätte und deswegen sogar dankbar wäre, bemerkt zu werden. Wenn ich das ablehne, schwenkt das in wirklich übergriffiges Verhalten bis hin zu Gewalt um. Ich glaube, viele fühlen sich stark in ihrem Stolz verletzt, wenn eine fette Frau sie abweist. Denn was macht das mit dem Männlichkeitsgefühl, wenn ich mit meinem Körper sie nicht will? Dreimal wurde ich in den vergangenen zwei Jahren beim Gassigehen mit meinem Hund von Männern verfolgt und musste nach Hause rennen. Ich erlebe auch, dass Menschen, die dicke oder fette Leute begehren, Angst haben, gesellschaftliches Ansehen zu verlieren, oder sich rechtfertigen müssen. Das schlägt sich auch im Sexleben nieder. Dort war der Gedanke da, froh sein zu müssen, dass überhaupt jemand Sex mit mir hat. Daher ist es für mich lange schwierig gewesen, nach Sachen zu fragen, die mir Spaß machen, oder nach Verhütung.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Auf deinem Instagram-Kanal teilst du Fotos und Videos aus deinem Alltag: im Sommerkleid, beim Tanzen oder Essen. Typische Alltagssituationen, wie man sie viel in den sozialen Medien findet. Aber du schreibst, dass du das früher nicht gepostet hättest. Wie fühlt es sich an, das jetzt zu tun?

Gut. Ich poste diese Fotos, weil so wenig Repräsentation von dicken und fetten Menschen existiert. Gibt es Bilder von allen Körpern, muss sich niemand alleine fühlen. Und ich merke, dass es mit mir selbst viel macht. Wenn ich ein kurzes Top und eine Hose trage, sieht man meine Bauchfalte. Das war früher ein No-Go. Mittlerweile mag ich das. So ändern sich Sehgewohnheiten. Beiträge von fetten Menschen in Bewegung oder beim Essen bekommen im Netz viel Hass ab. Essen in der Öffentlichkeit ist sowieso ein großes Thema, wenn man dick ist. In der Cafeteria das essen, was ich wirklich will? Wenn ich früher überhaupt etwas gegessen habe, musste es schon gesund sein. Oft gab ich auch vor, keinen Hunger zu haben.

Wie sind die Reaktionen auf deine Postings?

Geteilt, würde ich sagen. Dicke und fette Menschen finden sich hoffentlich in meinen Posts wieder. Es gibt aber auch viel Hass. Ich bekomme regelmäßig Kommentare und private Nachrichten, lösche und blockiere viel. Einmal hatte ich einen heftigen Shitstorm, als ein rechter Youtuber einen Beitrag über mich machte. Das war schlimm, wochenlang bekam ich Aufforderungen zum Suizid und Vergewaltigungsfantasien.

Vor allem im Netz fällt oft das Stichwort Body Positivity. Also ein positives Verhältnis zum eigenen Körper zu haben, egal wie er aussieht. Das hört sich ja erst mal gut an.

Das tut es. Aber es gibt damit verschiedene Probleme. Anfangs ging es darum, Körpernormen kritisch zu hinterfragen und einen Zugang zur eigenen Schönheit zu finden. Heute sehen wir online viele normschöne Körper, zum Beispiel von dünnen Menschen, die lernen wollen, dieses eine Speckröllchen an ihrem Bauch anzunehmen. Aber wie das Gesundheitssystem oder die Politik das Fettsein wahrnimmt, ändert sich nicht dadurch, dass ich mich selbst schön finde. Es ist schwierig, wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, die dir sagt, dein Körper sei schlecht, eklig und faul, und dann kommt jemand und sagt: Weißt du, was dir helfen würde – Selbstliebe.

Gibt es einen besseren Ansatz?

Mittlerweile existiert die Idee von Körperneutralität. Also der Gedanke, dass wir unserem Körper neutral begegnen können, ihn nicht hassen, aber auch nicht lieben müssen. Viele denken, sie müssten ihren Körper erst einmal lieben, um für ihn einstehen zu dürfen und respektiert zu werden. Das ist eine Falle.

Was wünschst du dir von dünnen Menschen?

Ich wünsche mir, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen und ein Bewusstsein entwickeln, was es heißt, sich als dicke oder fette Person in dieser Gesellschaft zu bewegen. Und am liebsten möchte ich, dass sie mit uns zusammen gegen Gewichtsdiskriminierung streiten.

Welchen Stellenwert hat dein Körper heute für dich?

Die Ängste und Unsicherheiten, die lange in mir wohnten, kann ich nach und nach loslassen. Ich merke erst langsam, dass ich mit meinem Körper auch Kraft und Sicherheit verbinde und durch ihn eine Präsenz habe. Zu sagen, hier bin ich, seht mich ruhig alle an, das hat ganz viel Kraft für mich.

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