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Kritisches Manöver

Acht Monate nach seiner Wiederwahl versucht der türkische Präsident die katastrophale Wirtschaftslage mit propalästinensischer Rhetorik zu verschleiern

Aus Istanbul Wolf Wittenfeld

Acht Monate nach der Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans zum Präsidenten der Türkei im Mai letzten Jahres ist das Land politisch und wirtschaftlich nach wie vor erschöpft. Obwohl Erdoğan kurz nach seinem Wahlsieg im Juni letzten Jahres seine unorthodoxe Wirtschaftspolitik änderte, hat das bislang die extrem hohe Inflation und die damit verbundenen täglichen Preissteigerungen nicht abmildern können.

Mit Hafize Gaye Erkan hatte Erdoğan eine Frau zur Zentralbankchefin gemacht, die zuvor als Bankerin in den USA tätig war, und mit Mehmet Şimşek einen Mann als Finanzminister zurückgeholt, der zuvor schon einmal erfolgreich war und ebenfalls in der westlichen Finanzelite beliebt ist. Beide gingen zügig daran, die Zentralbankzinsen zu erhöhen, um so die Inflation zu drücken, doch bislang erfolglos. Zwar wurde der Leitzins in mehreren Schritten von 8,5 Prozent auf 45 Prozent erhöht, doch die Inflation stieg zuletzt trotzdem wieder offiziell auf 64 Prozent, tatsächlich ist sie wohl noch weit höher.

Das bedeutet insbesondere für Menschen, die den Mindestlohn verdienen, dass sie kaum ihre Miete bezahlen können, die zwar oft den Mindestlohn von 450 Euro überschreitet. Doch selbst bei Tomaten, Brot und anderen Lebensmitteln müssen zumindest in der Millionenstadt Istanbul Preise wie in Berlin bezahlt werden. Weil die Bekämpfung der Wirtschaftskrise sich nicht für Erfolgsmeldungen eignet, sind Präsident Erdoğan und seine gesamte islamische AK-Parti dankbar für die Ablenkung, die der Gaza-Krieg bietet. Der Krieg im Nahen Osten spielt den Islamisten voll in die Karten.

Erdoğan lässt sich in seiner rhetorischen Unterstützung der Palästinenser im Allgemeinen und der Hamas im Besonderen von kaum jemandem übertreffen. Er beschimpft den israelischen Premier Benjamin Netanjahu, nennt ihn „genauso schlimm wie Hitler“ und geißelt den „Terror“ der Israelis im Gazastreifen nahezu jeden Tag.

Obwohl keine politische Gruppierung in der Türkei den Krieg in Gaza für gerechtfertigt hält, sind es die Anhänger Erdoğans, die die Demonstra­tionen anführen und dabei den gesamten Westen als heuchlerisch und verantwortlich für den Krieg in Bausch und Bogen verdammen.

Die bislang größte Demo fand am frühen Neujahrsmorgen nach dem Frühgebet statt. Dabei wurden nicht nur türkische und palästinensische Fahnen, sondern auch die grünen Banner des Kalifats geschwenkt. Hauptredner bei der Abschlusskundgebung war Erdoğans ältester Sohn Bilal. Dass Israel zunächst einmal auf einen grausamen Terrorangriff der Hamas reagierte, ist in der Türkei kein Thema, sondern geradezu ein Tabu.

Wer es wagt, die Hamas öffentlich zu kritisieren, sieht sich schnell als Verräter stigmatisiert. Auch in anderen Bereichen wurde das Sagbare weiter eingeschränkt. Die von Fox-TV produzierte Fernsehserie „Kızıl Goncalar“ über das Leben innerhalb einer islamischen Sekte wurde nach heftigen Protesten aus der islamistischen Ecke von der Medienaufsicht vorerst auf Eis gelegt und darf, vielleicht, im Februar wieder ausgestrahlt werden. Der bevorstehende Jahrestag des schlimmsten Erdbebens seit Jahrzehnten, das die Türkei am 6. Februar 2023 getroffen hat, ist auch nicht dazu angetan, die Stimmung zu heben.

Kritische Berichte zu der schleppenden Hilfe durch die Regierung sind vor einem Jahr schon unterdrückt worden und werden auch am Jahrestag keine Rolle spielen. Wie vor einem Jahr droht eine Blockade der sozialen Medien, die türkische Medienaufsicht sperrt mittlerweile auch viele VPN-Verbindungen.

Spannung versprechen die am 31. März stattfindenden landesweiten Kommunalwahlen. Vor allem beim Kampf um Istanbul und Ankara, den die Opposition vor fünf Jahren gewonnen hatte, wird sich zeigen, ob das Erdoğan-kritische Lager noch zu großer Mobilisierung fähig ist.

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