Silvesterböllerei : „Der Nahostkrieg hat damit nichts zu tun“
Die propalästinensischen Demonstrationen seien Ausdruck der Betroffenheit über die grausamen Bilder aus Gaza, sagt der Sozialpädagoge Hamad Nasser.
taz: Herr Nasser, mit was für einem Gefühl blicken Sie als Palästinenser in diesen Wochen auf Gaza und Israel?
Hamad Nasser: Mit Schmerz und Enttäuschung und auch Ohnmacht. Es gab auch gute Phasen in der langen Zeit des Nahostkonflikts und auch Hoffnung. Jetzt sieht alles nach Ruin aus.
Als Leiter des Nachbarschaftszentrums Schöneberg kommen Sie auch viel in der palästinensischen Community in Berlin herum. Entspricht das dem allgemeinen Gefühl?
Ja. Und es gibt noch ein Empfinden bei vielen Menschen: Sie fühlen sich eingeschüchtert und mundtot gemacht.
Hamad Nasser (57) ist Diplompädagoge. Der Palästinenser war neun Jahre alt, als die Familie nach zweifacher Vertreibung aus dem Libanon nach Berlin geflüchtet ist. 2004 baute er in der Steinmetzstraße das Nachbarschaftszentrum Schöneberg auf, das er bis heute leitet.
Inwiefern?
Die gesamte Berliner Politik hat nach dem Überfall der Hamas einen sehr harten Kurs gefahren. Was die israelische Bevölkerung am 7. Oktober erlebt hat, war das Schlimmste nach der Shoa. Viele deutsche Menschen waren betroffen, aber das triggerte sie auch in unsere Richtung.
Wie meinen Sie das?
Berliner mit palästinensischen Wurzeln wurden per se als Hamas-Anhänger angesehen. Leute, die überhaupt nicht radikal sind, hat das sehr irritiert. Es gibt viel Druck gegen die palästinensische Community. Es gibt den Generalverdacht, dass wir alle extremistisch sind.
Das inzwischen verbotene extremistische palästinensische Netzwerk Samidoun hatte nach dem Terroranschlag Süßigkeiten in der Sonnenallee verteilt. Die Polizei hatte die anschließenden Demoverbote damit begründet, dass antisemitische Straftaten zu erwarten seien.
Es gab einige Leute, die mit Freude auf den Anschlag reagiert haben. Die palästinensischen Organisationen distanzieren sich von ihnen. Die Mehrheit der politischen Akteure verurteilt den Terroranschlag. Aber viele fühlen sich vorverurteilt, wenn sie pro Gaza sind. Was sich da im Gazastreifen durch den israelischen Militärangriff abspielt, die Liquidierung von so vielen Zivilisten, ist grauenvoll. Die Zahl der in Gaza getöteten Zivilisten übersteigt die Zahl der in zwei Jahren Ukrainekrieg getöteten Zivilisten schon jetzt bei Weitem. Aber die Kritik an Israel wird mit Antisemitismus gleichgesetzt. Jeder Kritiker, selbst wenn es ein israelischer Kritiker ist, wird als antisemitisch bezeichnet. Was mich auch sehr geärgert hat, war, dass die Polizei die Demoverbote sehr radikal umgesetzt hat.
Auch die Demonstranten waren zum Teil sehr aggressiv. Polizisten wurden bedrängt und geschubst.
Es sind größtenteils junge Menschen. Die grausamen Bilder aus Gaza treiben sie um. Als Berliner mit palästinensischen Wurzeln bestehen sie auf ihrem Recht, zu protestieren, wie andere Menschen auch. Die Polizei hätte gemäßigter vorgehen können. Mittlerweile gibt es anscheinend auch in der Politik die Erkenntnis, dass es besser ist, wenn die Polizei bei propalästinensischen Demonstrationen nicht mehr so martialisch auftritt.
In Berlin geborene Palästinenser identifizieren sich also genauso mit den Menschen in Gaza wie ihre Eltern und Großeltern, die einst nach Deutschland geflohen sind?
Das Gefühl von Ohnmacht, Verzweiflung und Enttäuschung ist generationsübergreifend. Bei deutsch-palästinensischen Kindern ist das genauso wie bei palästinensischen Jugendlichen. Bei der Jugend ist die interessante Entwicklung zu beobachten, sich vermehrt kulturell und politisch in Clubs und Vereinen zu organisieren. „Palästina spricht“ ist zum Beispiel ein studentischer Verein, der sich verstärkt äußert.
Wie erklären Sie sich das?
Der Weg der Integration war sehr steinig. Der größte Teil der Palästinenser ist nie wirklich angekommen. Sie haben Rückschläge erlitten, das Asylverfahren hat lange gedauert, die Anerkennung der Berufsabschlüsse verlief schleppend. Die Diskriminierungserfahrungen sind sehr hoch. Das überträgt sich bis zur dritten Generation, die es mittlerweile schon gibt. Das kollektive Gedächtnis darf man nicht unterschätzen. Wir haben es mit einer traumatisierten Gesellschaft zu tun. Die Nakba …
… die Flucht und Vertreibung im Zuge der israelischen Staatsgründung 1947/48 …
… ist sehr präsent im Empfinden und Denken der Familien. Die brutale Vertreibung, die Zerstörung der Struktur Palästinas und der palästinensischen Gemeinschaft. Die Perspektivlosigkeit dauert fort, weil es keine politische Lösung gibt. Sie sind als Volk immer weniger ein Thema. Wir verlangen von den Palästinensern, bevor sie den Mund aufmachen: Vorsicht, Existenzrecht Israel. Die jungen Leute sagen aber: Wer redet denn über unsere Existenzberechtigung?
In Berlin leben immerhin rund 40.000 Palästinenser.
In Berlin haben wir die größte Gruppe von Palästinensischstämmigen, die aufgrund ihrer Vorgeschichte eher scheitern auf ihrem Bildungsweg. Da zeigt sich wieder einmal, wie sich bei Familien, die Bildungsprobleme haben, die Benachteiligung reproduziert. In den letzten Jahren gab es zwar deutlich mehr Anstrengungen, aber wir sind bis heute nicht in der Lage, gute integrative Konzepte zu entwickeln, um alle Menschen mitzunehmen. Umso erfreulicher ist, dass es allen schlechten politischen Rahmenbedingungen zum Trotz, nicht wenige Palästinenser geschafft haben, weitergekommen.
Sie gehören dazu?
Ich hatte viel Glück. Ich war neun Jahre alt, als ich mit meinen Eltern nach zweifacher Vertreibung 1976 aus dem Libanon nach Berlin gekommen bin. Ich konnte die Schule beenden und studieren.
2004 haben Sie das Nachbarschaftszentrum in der Steinmetzstraße in Schöneberg aufgebaut. Was ist die Zielgruppe?
In dem Kiez leben viele Einwanderer, die Lebensverhältnisse sind oftmals prekär. Viele kommen aus dem Libanon, Türkei, Sri Lanka, Maghreb, Kurdistan. Bildungsangebote für Kinder und Erwachsene sind unser zentrales Thema. Unter den Geflüchteten finden sich auch viele jüdisch Gläubige. Der Glaube hat keinen Stellenwert bei uns, es geht um Wertschätzung und Akzeptanz.
In wenigen Tagen ist Silvester. Seit 2019 gibt es im Steinmetzkiez eine Böllerverbotszone – die erste, die in Berlin ausgerufen wurde, nachdem es sechs Jahre auf der Straße ähnlich heftig zuging wie letztes Silvester in Neukölln. Sind Sie ein Befürworter des Böllerverbots?
Sehr sogar. Ich finde das im Interesse der Kinder und der Jugendlichen richtig. Es war hochgefährlich, was hier passiert ist.
Nach den Ausschreitungen beim letzten Jahreswechsel darf nun auch im Neuköllner Reuterkiez und Teilen der Sonnenallee nicht mehr geböllert werden.
Wenn es nach mir ginge, gäbe es ein berlinweites Böllerverbot. Ich weiß, dass das auf Bundesebene entschieden werden muss. Die jetzige Praxis sieht aber so aus, dass nur an Ecken, wo Migranten zusammenleben, Feuerwerk verboten wird.
Was stört Sie daran?
Da entsteht das Gefühl von Ungleichbehandlung: Warum wir und nicht auch die anderen? Die Angriffe auf die Feuerwehr vergangenes Silvester waren dramatisch. In den Verbotszonen leben aber auch sehr viele migrantische Jugendliche, die nett und artig sind und die Feuerwehr mögen. Wenn ich mit Familien und Jugendlichen rede, höre ich eine deutliche Verurteilung der Vorkommnisse. Die Mehrheit der Menschen weiß, wie wichtig Feuerwehr und Polizei sind.
Was für ein Bild wird mit einem begrenzten Böllerverbot erzeugt?
Dass es größtenteils migrantische Jugendliche sind, die mit Feuerwerk nicht umgehen können.
Die vergangenen Silvesterkrawalle wurden stark ethnisiert, etwa durch die von CDU-Chef Kai Wegner angestoßene Vornamendebatte.
Das war problematisch. Zunächst hieß es, 134 Araber seien beteiligt gewesen. Letztendlich waren es 40. Das ist schon ein Unterschied.
Die Polizei befürchtet, dass neue Silvesterkrawalle durch den Krieg im Nahen Osten und propalästinensische Demonstrationen zusätzlich angeheizt werden könnten. Wie sehen Sie das?
Die Leute sind sehr betroffen, mittlerweile gibt es jeden zweiten Tag Demos, die sehr unterschiedlich sind. Die einen rufen Parolen, die anderen machen Laternenumzüge. Aber mit der Silvesterböllerei hat der Nahostkrieg nichts zu tun.
Finden Jugendliche nicht immer einen Grund, Krawall zu machen?
Aber die sind ein Fall für die Jugendarbeit.
Was wollen Sie damit sagen?
Man muss sich mit ihnen beschäftigen und Angebote machen. Ich habe das in den 90er Jahren erlebt. Die Straßensozialarbeit hat eine Brücke bauen können. In dem Moment, wo wir die Unterstützung reduzieren, rächt sich die Jugend.
Tragen die Eltern nicht auch Verantwortung?
Natürlich. Die haben eine Vorbildfunktion. Geflüchtete Eltern müssen aber erst mal Strukturen für sich selbst schaffen und sind oft überfordert mit der Situation. Wir im Nachbarschaftszentrum arbeiten sehr eng mit den Familien. Ein Glücksfall war, dass sich eine Vätergruppe etabliert hat. Bis zu 13 Männer, die Hälfte palästinensisch, kommen zu den Treffen. Viele unserer Bildungsbotschafter haben einen palästinensischen Hintergrund.
Und die Frauen?
Sie sind auch Bildungsbotschafterinnen. Ich betone das mit den Vätern deshalb, weil das eine Besonderheit ist. Mütter sind größtenteils ohnehin engagierter in der Erziehungsarbeit als Väter, das ist in deutschen Familien nicht anders als in den arabischen.
Was wünschen Sie sich für Silvester?
Das ist nicht zur Eskalation kommt. Dass wir langfristige Projekte etablieren für die Jugendlichen in bestimmten Stadtteilen. Und dass wir bei der Bildungsarbeit auch das Thema Nahost nicht ausklammern.
Und was wünschen Sie sich für den Nahen Osten?
Frieden. Dass die Menschen an den Verhandlungstisch zurückkehren. Es gibt im Krieg keinen Gewinner. In diesem so wenig wie in anderen.
Haben Sie Hoffnung?
Wenig.
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