Nahostkonflikt im Alltag: Das Schweigen der Kleinstadt
Zu Recht wird Linken und Kulturbetrieb ihr Schweigen zum Terror gegen Israel vorgeworfen. Im Dorf unseres Kolumnisten ist es aber auch nicht lauter.
N atürlich ist es Quatsch, jemandem vorzuwerfen, dass er oder sie etwas nicht mehr aushält. Mir selbst geht es ja auch nicht anders beim Gedanken an Israel, bei den grauenhaften Fotos und Videos der Ermordeten und Verschleppten. Und auch ich habe mich in den letzten Wochen zwischendurch offline vor den Porträts vermisster Kinder versteckt – und vor Menschen, die unter Tränen beschreiben, wie sie Obduktionsergebnisse lesen und fast so was wie Erleichterung darüber empfinden, dass ihre geliebten Menschen zumindest „nur“ erschossen wurden.
Dass man da nicht endlos mitlesen kann, verstehe ich. Was mich aber zunehmend wütender macht, ist der selbstgerechte Gestus, mit dem sich Leute aus den Horrortimelines abmelden – mit so einem patzigen „Mir reicht’s!“, als wäre die bewusste Ignoranz nicht Notwehr gegen das Unerträgliche, sondern eine besondere Leistung – als wären sie die eigentlich Leidtragenden dieser Katastrophe, weil die Welt ihnen das Zugucken zumutet.
Ein Social-Media-Bekannter hat neulich geschrieben, er lese die Nachrichten aus Israel nicht mehr, weil er „weiter nüchtern über den Konflikt diskutieren“ wolle. Ich weiß nicht, wie man diskutieren kann, was man nicht wissen will. Ich kann mich an seine so nüchternen Nahost-Kommentare auch sonst nicht erinnern, aber ehrlich gesagt weiß ich sowieso gerade kaum noch, was es da nüchtern zu besprechen gäbe.
Wahrscheinlich meint er eigentlich jenes „ja, aber“, das weiten Teilen der Linken gerade zu recht unter die Nase gerieben wird – wegen der fließenden Übergänge von Kontextualisierung und Relativierung. Wegen der Doppelstandards, mit denen Israels Handeln seit jeher bewertet wird. Und weil manche Linke mit recht davon ausgehen, von ihren Genoss:innen rassistisch geschimpft zu werden, wenn sie die Morde der Hamas als Barbarei bezeichnen.
Verhallte Antisemitismuskritik
Ich habe solche Genoss:innen schon lange nicht mehr – und solche Freund:innen schon viel länger nicht. Trotzdem kommen mir auch wir Israelsolidarischen gerade nicht besonders hilfreich vor. Sich jahrelang über innerlinken Antisemitismus den Mund fusselig zu reden, war bestimmt nicht falsch. Sich selbstkritisch die eigenen Fehleinschätzungen als pubertierender Imperialismuskritiker nochmal vorzunehmen, hat sicherlich auch niemanden dümmer gemacht. Aber ehrlich gesagt, war unsere Strahlkraft in die Gesamtgesellschaft dann doch überschaubar.
Von wegen abschalten: Mein bürgerliches Umfeld hatte schon am 8. Oktober weitgehend kapituliert. Ein- oder vielleicht auch zweimal habe ich hier draußen auf dem Land jemanden mit Genugtuung was braseln hören darüber, dass postkoloniale, woke, antirassistische und klimabewegte Gutmenschen ja selber so eine Art Nazis wären – aber das war’s dann auch. Hatte der russische Überfall auf die Ukraine immerhin noch ein paar Friedensbewegte auf den Dorfplatz getrieben, herrscht im kleinbürgerlichen Kleinstadtalltag heute genau jenes tosende Schweigen, für das die Kulturlinke gerade völlig zu recht gescholten wird.
In der Großstadt ist das ein bisschen anders. Ein paar wenige Israelfahnen habe ich da in den letzten Wochen gesehen – sogar ein T-Shirt der Israel Defence Forces. Ob die Landbevölkerung nun ignoranter ist oder sogar antisemitischer? Ich traue mir da keine Einschätzung der Mehrheitsverhältnisse mehr zu. Immerhin gibt es in der Stadt auch mehr Palästinaflaggen und schweigende Mehrheiten natürlich sowieso. Da leben ja nun auch mehr Leute. Aber es macht einen qualitativen Unterschied, ob die Solidarität mit den Terroropfern auf der Straße nur ein bisschen sichtbar wird oder überhaupt nicht.
Denn wenn man hier draußen offline geht, ist das Schweigen nach einer Weile nämlich wirklich kaum mehr zu ertragen.
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