NS-Gedenken in der Kunst: Wie ein völkisches Betriebssystem
Eine Ausstellung in Darmstadt fragt nach unserem Umgang mit dem NS. Seit dem 7. Oktober erhält es eine unheilvolle Aktualisierung.
Ein gelber Minibus fährt in Schrittgeschwindigkeit durch Tiflis. Die aufgebrachte Menge raunt. Da sind sie drin! Ihr Zorn will sich entladen, doch nicht alle kommen sie hin zu den Menschen, die einige Polizisten allenfalls notdürftig schützen.
Kurz zuvor hat ein Mob das Pride-Festival gestürmt. Schwulenfeindliche Parolen brüllt man nun jenen verängstigten TeilnehmerInnen entgegen, die im Bus sitzen und hilflos mitansehen müssen, wie die Scheiben eingeschlagen werden. Der Horror beginnt mit jedem Abbrechen einer Szene von Neuem.
„in situ“: Kunsthalle Darmstadt, bis 7. Januar
Fünfzehn verschiedene Found-Footage-Aufnahmen hat Soso Dumbadze für seine Videoarbeit „A Yellow Bus“ (2017) zusammengetragen. Ursprünglich als räumliche 15-Kanal-Installation angelegt, wird sie jetzt als lineare Projektion in der Kabinettausstellung „in situ“ der Kunsthalle Darmstadt gezeigt.
Die Schau will Antworten in der zeitgenössischen Kunst suchen, wie an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert werden könnte. Konzipiert wurde sie weit vor den aktuellen Ausschreitungen, die der Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober bei Protesten hierzulande zur Folge hat. Jetzt, bei der Eröffnung, herrscht eine gewisse Sprach- und wohl auch Hilflosigkeit. Dabei ist ja kein Ausstellungshaus zu außenpolitischen Statements verpflichtet.
Statt wie sonst allerorten halbherzig und halbinformiert über den Nahen Osten zu diskutieren, wird hier immerhin viel naheliegender überlegt, wieso der bemerkenswert offen ausagierte Hass gegen Jüdinnen und Juden weltweit als so selbstverständlich empfunden wird.
Der NS als Klassenfeind
Künstler Leon Kahane benennt beim Eröffnungstalk den Elefanten im Raum. Anhand seiner ausgestellten Arbeiten, für die er auf eine Sammlung mit politischen Plakaten aus der ehemaligen DDR zurückgriff, macht er einen Kitt aus: „Antisemitismus als völkisches Betriebssystem“. Bezogen auf die DDR bedeutete dies, dass der „Klassenfeind“ im Moment der Neuerfindung eines Selbstbilds für den realsozialistischen Staat mit dem NS gleichgesetzt werden musste: ergo mit dem Westen.
„Es herrschte ein fundamentales Missverständnis darüber, was eigentlich der Nationalsozialismus war“, so Kahane. Reale Opfer wurden in dieser Logik häufig ein zweites Mal unsichtbar gemacht.
Die Journalistin und taz-Autorin Anastasia Tikhomirova bestätigt dies bei dem Gespräch. Ihre Eltern kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, „wo dann aus dem Nationalsozialismus der Faschismus wurde“ (auch der Ausstellungstext setzt bisweilen die Begriffe synonym) und Juden explizit nicht als Opfer dieser Ideologie benannt wurden. Ähnliche „ideologische Verdrehungen“ sieht Kahane heute im postkolonialen Denken westlicher Prägung.
Die Kritik am Postkolonialismus allein will Simon Nagy beim Eröffnungstalk nicht stehenlassen. Er gehört der Wiener Gruppe Schandwache an, die sich mit dem Denkmalsturz einer Statue des österreichischen Politikers und Antisemiten Karl Lueger (1844–1910) auseinandersetzt. Auch Nagy ist fassungslos, „dass Menschen, die sich täglich damit beschäftigen, was es heißt, Bilder oder Text zu produzieren, jetzt diesem Denken anheimfallen“. Das betreffe keineswegs nur die Kunstwelt.
Von der Unmöglichkeit, Bücher respektvoll zu entsorgen
So lohnt diese kleine Ausstellung vielleicht gerade, wenn sie keine Antworten auf ihre eigene Aktualisierung findet und somit keine erlösende Katharsis von der Geschichte und ihren Kontinuitäten. Kahanes ausschnitthaft vergrößertes, jeglichem Kontext entzogenes DDR-Plakat ziert die Vorschau: Eine weiße Taube flattert über blauen Grund. Wer kann schon etwas gegen Frieden haben, fragt der Künstler rhetorisch. Der Kitsch liegt nicht weit.
Abie Franklins sehenswerter Video-Essay handelt von der Unmöglichkeit einer respektvollen Entsorgung von Büchern (und von der Bücherverbrennung als verbindendes Element der autoritären Herrschaft). Jonas Höschl setzt Kriminalromane von E. W. Pless hinter Milchglas – seines Namens laut Wikipedia in den 1970er Jahren „Neonazi, PLO-Mitglied und Beschaffer von Waffen für palästinensische Terroranschläge“. Ebenfalls unter Glas versteckt sich eine Ausgabe der Sunday Times, die stolz die Verpflichtung Leni Riefenstahls als abermalige Fotografin der Olympiade verkündet.
Der Weg hinausführt dann wieder vorbei an Dumbadzes „A Yellow Bus“, der seinen Insassinnen und Insassen keinen echten Schutz vor den Entfesselten verspricht. Jeder Ausschnitt zeigt einen anderen Winkel auf das Geschehen. Wer nicht hört, was die Menge skandiert, und ihre bedrohlichen Arme nicht sieht, die nach den Menschen im Bus greifen, könnte sie leicht für soziale Gerechtigkeitskämpfer halten.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Anastasia Tikhomirova sei in der Sowjetunion geboren worden. Das trifft nicht zu, die Stelle wurde geändert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!