Postkoloniales Gedenken: Begrabene Erinnerungen
Was machen wir mit veraltetem kolonialen Gedenken wie dem „Herero-Stein“? Die Ausstellung „Buried Memories“ startet einen Diskussionsprozess.
Die Stimme erzählt im neutralen Nachrichtenton die Geschichte des Steins – dass es eine KI ist, eine künstlich generierte Stimme, hört man nicht, der Leiter des Museums Neukölln, Mathias Henkel, erzählt es im Gespräch mit der taz nebenbei. Wichtig ist: Dieser „Herero-Stein“ ist seit Jahrzehnten ein Streitpunkt in Neukölln, ein „Stein des Anstoßes“, wie Henkel sagt. Von diesem Streit und wie der Bezirk mit dem Stein umgehen könnte, handelt die neue Ausstellung „Buried Memories: Vom Umgang mit dem Erinnern. Der Genozid an den Ovaherero und Nama“, die am Samstag im Museum Neukölln im Gutshof Britz eröffnet wurde.
„Der Stein ehrt deutsche Soldaten, die im deutsch-namibischen Krieg ihr Leben verloren haben. Ihr Tod wird als Heldentod heroisiert“, sagt die Stimme. Weil das so ist, legen Soldatenvereinigungen wie das Afrikakorps jährlich Kränze dort ab. Über den Tod von zehntausenden Herero und Nama im Kolonialkrieg 1904–08, dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, erzählt der Stein, der 1973 auf den Garnisonfriedhof versetzt wurde, nichts.
„Anschläge“ auf den Stein
Die Ausstellung „Buried Memories. Vom Umgang mit dem Erinnern. Der Genozid an den Ovaherero und Nama“ ist noch bis 21. Juli 2024 im Museum Neukölln, Alt-Britz 81, zu sehen. Teil der Ausstellung ist das Konzept „Museum im Dialog“. Hier will die Ausstellung als „Impulsgeber für eine vielschichtige Reflexion“ fungieren und einen Dialog starten um einen zeitgemäßen Umgang mit dem kolonialen Erbe zu entwickeln. Dazu wird es Führungen, Workshops, Performances und Seminare geben, am Ende soll eine Handlungsempfehlung für den Bezirk Neukölln stehen, wie mit dem „Herero-Stein“ umgegangen werden soll. Am 15. November 2023, 17:00–18:30 Uhr, gibt es zum Beispiel eine Kurator*innen-Führung durch die Ausstellung. Mehr Infos hier. (sum)
Seit Jahrzehnten empören sich vor allem afrodiasporische und postmigrantische Gruppen über dieses einzige Berliner „Denkmal“ an den Völkermord, das keines ist. Die Bezirkspolitik einigt sich 2009 nach langer Diskussion auf eine Gedenkplatte, die neben dem Stein angebracht wird – und das Ganze fast noch schlimmer macht. „Zum Gedenken an die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia 1884–1915 insbesondere des Kolonialkrieges von 1904–07“, heißt es darauf. Kein Wort von Völkermord, keine Opferzahlen, keine Erwähnung der Herero und Nama. Die Kritiker*innen sind entsetzt, es gibt weiterhin Proteste – und immer wieder „Anschläge“ auf den Stein, der mit roter Farbe überschüttet, mit Parolen übermalt wird.
All dies hören und sehen Besucher*innen, bevor sie durch den Vorhang den Ausstellungsraum betreten. „Es soll ein bisschen eklig sein, da durch zu gehen, man soll den alten kolonialen Blick ‚verlernen‘“, erklärt Henkel in Anspielung auf Bonaventure Ndikung, den Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt, der von der Notwendigkeit des „verlernen Lernens“ spricht, um dekolonial denken zu können.
In diesem Fall heißt das: Man muss durch diese geradezu empörende Geschichte des Herero-Steins hindurchgehen – um unversehens vor einem „Gräberfeld“ zu stehen. Hinter dem Vorhang blickt man auf einen vielleicht 20 Quadratmeter großen Haufen rot-braunen Sandes, in dem weiße Masken halb begraben liegen. Die Kunstinstallation „They Tried to Bury Us“ der namibischen Künstlerin und Ko-Kuratorin der Ausstellung, Isabel Tueumuna Katjavivi, füllt fast den ganzen Raum, an den Wänden ringsum sind Ereignisse und Texte zur Geschichte und Rezeption des Genozids aufgestellt.
Die Masken stellen alle dasselbe Gesicht dar, nämlich Katjavivis. In einem Text, der am Empfangstresen erhältlich ist, erklärt sie, die Masken „symbolisieren die 70.000 getöteten Menschen, und gleichzeitig repräsentieren sie die verschüttteten und verdrängten Erinnerungen an diese so grausamen Ereignisse“.
Museum im Dialog
Wie gehen wir mit dieser Geschichte um? Was machen wir mit „Spuren des Kolonialismus im Stadtbild“ wie dem Herero-Stein, fragt Henkel in seiner Rede zur Eröffnung am Samstagnachmittag. Er sei dankbar für Mitstreiter*innen, mit denen man sich nun an eine „Neuerfindung des Gedenkens an den Völkermord“ wagen könne – anstatt den Stein des Anstoßes zu entfernen und damit die „falsche“ Erinnerung des kolonialen Blicks einfach auszulöschen.
Der Weg, den das Museum stattdessen gehen will, ist zumindest originell: Als „Museum im Dialog“ will man in den kommenden acht Monaten, so lange geht die Ausstellung, mit interessierten Bürger*innen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft einen Diskussionsprozess starten, wie wir heute angemessen des Völkermords gedenken wollen – und wie mit dem Stein umgegangen werden soll. „Der Erfahrungsbericht wird damit zugleich zur Handlungsempfehlung für den künftigen operativen Umgang mit dem Gedenk-Ensemble auf dem Friedhof am Columbiadamm“, so die Ausstellungsmacher auf ihrer Webseite.
Eigens für diesen Diskussionsprozess wurde eine Jurte angeschafft, die im Garten des Museums Platz für Diskussionen, Workshops und mehr bieten soll. Das Programm steht nicht ganz fest, noch werden Moderator*innen und Dozent*innen gesucht: Das Museum hat zusammen mit der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) und dem afrodeutschen Bildungsarchiv AFROTAK TV cyberNomads die Idee entwickelt, insbesondere Personen aus der engagierten Zivilgesellschaft zu gewinnen, „die fachlich fundierte Module im Rahmen der Neuköllner Museumsakademie anbieten“.
Dass der Herero-Stein am Ende womöglich nicht wegkommt, wie es viele Aktivist*innen so lange schon fordern, findet Israel Kaunatjike in Ordnung. Zwar kämpft der Herero-Nachfahre und -Aktivist selbst seit Jahrzehnten dagegen. „Aber diese ganze Geschichte wäre verloren, wenn der Stein wegkommt“ – ein Kommentar, eine Ergänzung daneben sei daher besser, findet er.
„Ein langer Weg bis hierher“
Auch die Ausstellung im Gutshof, die Installation von Katjavivi, all dies sei sehr wichtig, „damit die Menschen das kennenlernen vor Ort“, sagt Kaunatjike bei der Eröffnung zur taz. Ihm liegen vor allem die Kinder und Schüler*innen am Herzen, als Bildungsreferent versucht er seit Jahrzehnten eine postkoloniale Sicht auf die Kolonialzeit und ihre Verbrechen zu vermitteln. „Es war ein langer Weg bis hierher. Wir sind fast angekommen, aber die Geschichte geht immer noch weiter.“
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