Experte über Wachstumsmarkt Altenpflege: „Spekulation spielt eine Rolle“

Die Nachfrage nach Pflegeplätzen ist riesig. Warum viele Heime gerade trotzdem Insolvenz anmelden, erklärt der Experte Christoph Trautvetter.

Hände einer alten frau am Griff eines Rolators

Zumindest der Rollator gibt Halt: Eine Heimbewohnerin in Duisburg Foto: Martin Moeller/imago

taz: Herr Trautvetter, immer wieder melden Pflegeheime Insolvenz an. Gleichzeitig altert die Gesellschaft und steigt der Bedarf. Wie passt das zusammen?

Christoph Trautvetter: Das hat mehrere Gründe. Der wichtigste ist der Personalmangel. Es gibt eine vorgeschriebene Mindestanzahl von Pflegekräften pro Bett, und wenn die nicht eingehalten werden kann, dann untersagen die Aufsichtsbehörden im Zweifel, diese Plätze zu belegen. Wenn dann ein Heim halb leer steht, kann es schnell in die Pleite rutschen. Deswegen sind auch einige Pflegeheimbetreiber bereit, horrende Summen an Leihkräfte zu zahlen, die viel mehr kosten als das Stammpersonal – einfach, weil sie so verzweifelt nach Pflegekräften suchen.

Der Fachkräftemangel befördert also die Pleitewelle. Was sind weitere Gründe?

Wir haben im Pflegemarkt eine Expansionswelle erlebt von teilweise finanzmarktgetriebenen Investoren. In Norddeutschland gibt es das Beispiel einer Pflegeheimkette, die Anfang des Jahres Insolvenz angemeldet hat. Convivo war ein von einem Krankenpfleger gegründetes Unternehmen aus Bremen. Dann wurde mit wenig eigenem Geld eine ganz schnelle Expansion versucht, es wurden viele Pflegeheime dazugekauft. Im Prinzip wurde das Wachstumsmodell der großen Investoren kopiert. Am Ende gab es aber Finanzierungsprobleme, weil man sich beim Wachstum übernommen hat.

37, ist ehemaliger Unternehmensberater, der als forensischer Sonderprüfer die Geschäfts- und Steuerpraktiken der Konzerne kennengelernt und nach drei Jahren gekündigt hat. Mittlerweile setzt er sich im Netzwerk für Steuergerechtigkeit gegen Geldwäsche ein.

Wie funktionieren Wachstums­modelle mit Pflegeheimen?

Im Prinzip wie Immobilienspekulation. Wenn ein Pflegeheim verkauft wird, dann spekuliert der nächste Käufer, dass er mit diesem Pflegeheim hohe Gewinne machen kann. Diese erwarteten Gewinne fließen in den Kaufpreis ein. Das heißt, das Pflegeheim wechselt den Eigentümer schon zu sehr hohen Kosten, mit der Erwartung von hohen Gewinnen. Wenn sich die nicht realisieren lassen, wie geplant, dann droht die Insolvenz.

Welche Rolle spielt, dass seit September 2022 nach Tarif gezahlt werden muss?

Das hat vor allen Dingen in Ostdeutschland zu einigen Veränderungen geführt. Dort, wo weit unter Tarif gezahlt wurde, sind die Arbeitskosten gestiegen – mit der Folge, dass die Unterbringungspreise gestiegen sind.

Die erhöhten Arbeitskosten wurden abgewälzt auf die Kunden.

Genau, denn die Nachfrage bleibt ja bestehen. Das stellt vor allem die Gepflegten und die Familien vor große Herausforderungen und da, wo der Staat einspringen muss, auch die Sozial­kassen. Aber deswegen geht kein Pflegeheim pleite.

Aber es führt zumindest dazu, dass Gewinne nicht durch Lohndrückerei maximiert werden können, oder?

Für Lohndrückerei ist im Pflegebereich wegen der Regulierung und des aktuellen Umfelds wenig Platz. Dafür können Betreiber zum Beispiel mit der Immobilie Geld machen. Bei Convivo gehörte ein Großteil der Immobilien irgendwelchen Finanzinvestoren. Convivo hat also nur den Betrieb übernommen und die Immobilie gepachtet. Nur so konnten sie sehr schnell wachsen ohne eigenes Kapital, aber sie sind dann pleitegegangen, weil sie am Ende die Pachtkosten nicht mehr stemmen konnten. Die Parallelität zum Immobilienmarkt ist sehr groß, weil die Immobilen ja ein großer Kostenblock sind.

Sie haben sich in einer Studie die stationäre Altenpflege in Bremen genauer angeschaut. Was hat sie interessiert?

Zwei Dinge: einmal die Eigentümerfrage und dann die Frage der Geschäftspraxis.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

In Bremen sind laut Studie 48 Prozent der Pflegeheime in privater Trägerschaft, 52 Prozent sind gemeinnützig. Was haben Sie über die Eigentümerstrukturen herausgefunden?

Die sind sehr vielfältig: Es gibt in Bremen zum Beispiel lokal verankerte Private-Equity-Fonds. Es gibt milliardenschwere Privatinvestoren aus dem In- und Ausland, die einzelne Pflegeheime aufkaufen. Und dann gibt es börsen­notierte Unternehmen aus Frankreich, wie zum Beispiel Korian oder Dorea. Interessant ist auch, ob es sich um pflegeferne oder pflegenahe Investoren handelt. Es gibt tatsächlich auch Finanzmarktakteure, die vorher vielleicht in Pipelines und Schiffscontainer investieren, und dann schauen sie in der Pflege vorbei.

Kann man einen Rückschluss von der Eigentümerstruktur auf die Qualität der Pflege ziehen?

Die Qualität der Pflege zu bemessen, ist sehr schwierig. Dazu müsste man umfangreiche Feldstudien und Vergleiche machen, die gibt es meines Wissens nicht. Aber in Bremen gibt es eine Analyse der Aufsichtsbehörden, die sagt: Bei den privaten Betreibern – leider nicht differenziert nach den unterschiedlichen Gruppen – sind die gemeldeten Beschwerden größer als bei den gemeinnützigen. Daneben kann man zumindest zentrale Kennzahlen vergleichen: Wie ist die Mitarbeiterquote, die Pachtzahlung, werden Immobilien besessen oder nicht? Wie sieht es aus mit Zinszahlungen oder Verkaufserlösen?

Was können Sie schlussfolgern?

Dass im privaten Sektor Verkäufe und spekulatives Handeln eine große Rolle spielen, was in den anderen ­Sektoren per definitionem schon nicht der Fall ist. Dort, wo solche Verkäufe ­stattfinden, wird das häufig zum Problem, weil eben durch diese Verkäufe quasi Gewinnerwartungen in den Verkaufspreis einfließen, die dann den nächsten Investor unter Druck setzen, diese Gewinnerwartung auch zu er­füllen.

Insolvenzen

Laut Statistischem Bundesamt gab es im ersten Halbjahr 2023 45 Insolvenzverfahren im Wirtschaftsbereich Pflegeheime. Im Vorjahreszeitraum waren es nur sieben. Nicht erfasst ist die Zahl der betroffenen Heime, da ein Unternehmen mehrere Heime betreiben kann. Dem Branchendienst pflegemarkt.com zufolge wurden im ersten Halbjahr 2023 42 Pflegeheime geschlossen, dadurch seien 1.974 vollstationäre Plätze verloren gegangen.

Beispiel Convivo

Im Januar hatte die Pflegeheimgruppe Insolvenz beantragt. Für die meisten Häuser wurden laut Insolvenzverwalter neue Betreiber gefunden. Fünf Heime mussten geschlossen und ihre Bewoh­ner*innen in anderen Heimen unter­gebracht werden. (jak)

Eine Gewinnspirale nach oben.

Genau. Aber wenn man sich die Pflegeinvestoren anguckt, muss man zumindest sagen, dass es wenig kurzfristige Spekulation gibt. Der Großteil spekuliert darauf, vielleicht nach zehn oder zwanzig Jahren ein Vermögen aufzubauen und das dann weiterzuverkaufen.

Wie wird denn dieses Vermögen aufgebaut?

Da gibt es wieder unterschiedliche Modelle. Wenn die Immobilien nicht zum Betrieb gehören, dann besteht das Vermögen im Geschäftswert. Da ist das Sachvermögen meist sehr gering. Bei einem Verkauf werden trotzdem ­mehrere Millionen Euro gezahlt – für ein funktionierendes Geschäfts­modell. Man zahlt für die Organisation, die angestellten Pflegekräfte, das ausgelastete Haus und den Kundenstamm; in der Erwartung, daraus dann jedes Jahr Erlöse zu erzielen. Die machen keine großen Gewinne, schütten auch keine ­Dividenden aus, aber sie hoffen, das ­bestehende Modell für ein paar Millionen Euro mehr weiterverkaufen zu können. Die börsennotierten Gesellschaften zahlen auch teilweise Dividenden aus.

Werden Gewinne auch durch Einsparung gesteigert? Spielt das eine Rolle?

Klar man kann vielleicht etwas an der Ausstattung sparen. Aber es gibt keine riesigen Gewinnmargen bei Pflegeheimen. Dafür gilt die Pflege als stabiles Investment, unabhängig von der Konjunktur. Das gilt vor allem für gut ausgestattete Pflegeheime mit ausreichend Personal. Die machen nach wie vor gute Gewinne, auch die gemeinnützigen Betreiber. Auch die machen schon seit vielen Jahren Gewinne und haben teils große Rücklagen geschaffen, mit denen sie jetzt ihre Immobilien gekauft haben. Es lohnt sich trotz kleinerer Gewinnmargen so, dass auch gemeinnützige Betreiber am Ende wachsen können.

Welchen Unterschied macht es, ob Betreiber die Immobilien besitzen oder pachten?

Es gibt keinen eindeutigen Trend. Aber man sieht eine Tendenz, dass die Pachtzahlungen bei denen, die ihre Immobilien auslagern, höher sind als die Immobilienkosten der anderen. Das kann verschiedene Ursachen haben. Ein Vorwurf, der öfter mal vorgebracht wird, ist, dass über die Pachtzahlung versteckt Gewinne abfließen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Teilweise sind es miteinander verbundene Unternehmen. Die Pachtzahlung ist ein Bereich, den man teilweise an die Krankenkasse weitergeben kann und auch an die Kunden. Denn die Gebühr für das Pflegeheim besteht zur einen Hälfte aus Kost und Logis und zur anderen Hälfte aus der Pflege, und da gibt es mit den Krankenkassen fest­gelegte Sätze.

Und was ist der Vorwurf?

Dass teilweise etwas kreativ die Immobilienkosten erhöht werden. Es ist ein weites Feld. Aber wie gesagt, es gibt auch viele Modelle, da liegt der eigentliche Profit nicht im Pflegeheimbetrieb, sondern einfach beim Verkauf der Immobilie.

Für Pfle­ge­heim­be­woh­ne­r*in­nen bedeutet eine Insolvenz immer Unsicherheit, auch wenn es nicht zwangsläufig zu Heimschließungen kommt, manchmal wechselt nur der Betreiber. Leiden denn private Betreiber stärker unter der Pleitewelle als gemeinnützige?

Der Personalmangel betrifft alle. Aber die gemeinnützigen Betreiber, die das schon seit Jahrzehnten machen, leiden vielleicht etwas weniger akut, weil sie oft langjähriges, verlässliches Stammpersonal haben. Wenn aber ein Betreiber wechselt und alles neu organisiert, dann ist es wahrscheinlicher, dass sich auch das Pflegepersonal neu orientiert.

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