Geschichte eines Wehrmachts-Deserteurs: Langer Blick auf ein kurzes Leben

Der Wehrmachts-Deserteur Heinrich Börner gehörte zu keiner der klassischen Verfolgten-Gruppen. Bodo Dringenbergs Romanbiografie ist deshalb lesenswert.

Eine Blume, ein paar Soldatenstiefel und ein Helm liegen nebeneinander auf dem Boden

Aufgebaut 1990, abgebaut 2014: Dieses „Denkmal für den unbekannten Deserteur“ stand einst auf dem Trammplatz in Hannover Foto: Martina Nolte/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE Deed)

„Er ist geboren worden, er hat eine Mutter gehabt“, sagt Bodo Dringenberg knapp. „Er hat als Melker gearbeitet, er musste zum Militär, und er ist im April 1940 im Alter von 21 Jahren erschossen worden.“ Das jeweils steht unausweichlich fest. Das kurze Leben des Heinrich Börner, Vater nicht verzeichnet; aufgewachsen und gestorben in Hannover, hingerichtet auf der Garnisonsschießanlage Vahrenwald. „Romanbiografie“ steht als Genrebezeichnung auf dem Buchumschlag. Und diese besondere Form entspricht auch dem Werdegang seines Autors Bodo Dringenberg.

Dieser, Jahrgang 1947, wächst am Rande des Ruhrgebiets auf. Er kommt 1972 nach Hannover – und bleibt. Er studiert unter anderem Sprachgeschichte, forscht zur Geschichte von Namen, etwa ob ‚Hannover‘ von ‚vom hohen Ufer‘ kommen könnte (kommt es nicht). Er forscht, wie sich aus dem Niederdeutschen ein frühes Hochdeutsch entwickelt, forscht zur Entwicklung der Stadtsprache Hannovers; dass man da zum Experten auch für Lokalgeschichte wird, bleibt nicht aus. Er findet zum literarischen Schreiben, veröffentlicht einen Schwung Regionalkrimis. Schreibt auch für den Hörfunk, gern lange Stücke, die vom Erzählen leben.

Über den einstigen Leiter des Hannoverschen Stadtarchivs Karljosef Kreter kommt er schließlich zum Netzwerk „Erinnerung und Zukunft“. Das engagiert sich bei Straßenumbenennungen und beim Verlegen von Stolpersteinen. Als der Künstler Günter Demnig eingeladen ist, in die Stadt zu kommen, und man überlegt, für wen dann Stolpersteine verlegt werden sollen, stößt man in den Unterlagen mit den Opfern auf den Namen von Heinrich Börner – über den kaum etwas bekannt ist.

Bodo Dringenbergs Interesse ist mehr als geweckt; und Kreter versorgt ihn mit den wenigen Personenstands- und Meldedaten, die zu finden sind. „Mich hat gereizt, das Leben eines jungen Mannes zu erzählen, der zu keiner der klassischen Verfolgten-Gruppe gehörte, und trotzdem hat er sich nicht mit seinem Militärdienst in der Wehrmacht abgefunden, sondern hat sich diesem entzogen und ist dafür bestraft worden“, sagt Dringenberg.

Noch etwas hat ihn beim Schreiben bewegt: „Die meiste Literatur wird von Gebildeten für Gebildete geschrieben, die das dann lesen.“ Ihn aber reizte die mögliche Biografie eines Menschen, der keine höhere Schulbildung hatte und der nach allem, was man vermuten kann, als einfacher Melker eher kein intellektuelles Leben geführt hat.

„Ich habe mich gefragt: Kann ich das schreiben? Und funktioniert das?“ Er skizziert das Spannungsfeld, dem er sich öffnete: „Mein Protagonist ist nicht dumm, er ist wahrnehmungsstark. Er hat ein sehr gutes Gedächtnis, aber er kann mit politischen Theorien, mit Metaphysik oder auch Religion nichts anfangen.“ Kein Intellektueller sei er, aber auch kein Anti-Intellektueller.

Begleitet wie geprägt wird diese fiktive, zugleich in sich schlüssige Lebensgeschichte durch die realen Brüche und Umbrüche, die sich in Hannover entlang der Weimarer Jahre vollziehen: die wirtschaftlichen Krisen, die politische Radikalisierung auch auf den Straßen, der sich abzeichnende und dann sich vollziehende Durchmarsch der Nationalsozialisten.

Ein kleines, nicht unwichtiges Detail: Dringenberg lässt seinen Protagonisten Mitte der 1920er-Jahre als Erstklässler auf die Fröbel-Schule gehen, eine Schule, die sich dezidiert gegen die Prügelstrafe aussprach und etwas Ähnliches wie den heutigen Projektunterricht praktizierte. Dringenberg lehnt sich kurz zurück: „Es gab in Hannover damals keine Fröbel-Schule. Aber es gab in Linden die Fröbelstraße, in der die sogenannte ‚Weltliche Schule‘ lag.“ Und er bringt sein Hin- und Herswitchen zwischen Tatsachen und ihren literarischen Ausdeutungen auf folgende griffige Formel: „Es geht mir darum, dass die wenigen Fakten mit möglichen Lebenserfahrungen und Gedanken sinnvoll verbunden werden.“

Entsprechend wirkt im Hintergrund auch eine autobiografische Ebene: „Mein Vater war Soldat, mein Bruder war Zeitsoldat, ich musste mich dauernd mit militärischen Sachen herumschlagen.“ Auch er selbst geht zwei Jahre zur Bundeswehr, erkennt bald, dass er sich nicht für eine Offizierslaufbahn eignet. „Ich habe hinterher überlegt zu verweigern, aber das kam mir dann doch zu theatralisch vor“, lacht er. Wird wieder ernst und sagt: „Was mich mit Börner verbindet, der bei den Haubitzen war: Ich war auch Artillerist, kenne mich da aus; das ist Industriearbeit, so wie heute das Kämpfen mit Drohnen Computerarbeit ist.“

Geschichte aller Deserteure

Wie ein womöglich stiller, in sich gekehrter, vielleicht auch eigenbrötlerischer junger Mann in die Fänge der Abrichtungsmaschinerie des Männlichkeitsdrills gerät, das ist das Thema, das sich durch die Romanbiografie zieht. Und es sei kein Zufall, wenn man zwischendurch an Klaus Theweleits Untersuchungen über den soldatischen Körper denke.

Nicht das Leben in einer idealisierten Natur ist der angelegte Gegenpol, in dem der Melker Heinrich Börner Ruhe und Zuflucht findet, sondern die durchaus schwere und effiziente Landwirtschaft auf den Höfen vor der Stadt, in der die Bauern und Großbauern das Sagen haben – und wo es dennoch Momente für Rückzüge und auch von Glück gibt. „Was meinem Börner an den Kühen so gefällt, die er jeden Tag melken muss, ist, dass sie nicht auf Kommando Muhen können.“

„Alle Figuren, die namentlich auftauchen, sind historisch belegt“, sagt Dringenberg noch. Das gilt etwa für den Arzt Dr. Paul Liepmann, der den Protagonisten als Kind und Jugendlichen immer wieder behandelt und der später im Verlauf des Romans wie seines realen Lebens ob seiner jüdischen Herkunft seine Praxis aufgeben muss. „Liepmann war praktischer Arzt in Hannover-Linden, auch für Frauenheilkunde zuständig. Er hat entsprechend Entbindungen durchgeführt, und es gibt für mich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Börners Mutter, die damals ebenfalls in Linden lebte, bei ihm entbunden hat und Liepmann so Mutter und Sohn kennenlernte.“

Spannend auch eine Begegnung mit den Vagabunden, den politisch engagierten „Landstreichern“, wie man sie damals nannte und auf die Dringenberg seinen Helden treffen lässt, als er als junger Melker raus aufs Hannoversche Land geht. Dabei lässt Dringenberg seinen Protagonisten auf einen Mann namens Gregor Gok treffen, Herausgeber einer Zeitschrift mit dem Namen „Der Kunde“, ein früher, wilder Vorläufer der heutigen Straßenmagazine. Auch Gok ist eine interessante Figur: glühender, ungestümer Anarchist, kommt er 1930 nach einer Reise in die damalige Sowjetunion als strammer Kommunist zurück. Eigentlich ein künftiger Themenstoff für Dringenberg.

Viel positive Resonanz

Der aber hat zunächst andere Pläne, das kommende Buch ist längst geplant, der Vertrag dafür jüngst unterschrieben: Zusammen mit dem Autor Rolf Cantzen, mit dem er eine Biografie über den tschechischen Schriftsteller Jaroslav Hašek verfasst hat, schreibt er an einem Buch über Desertation. Es soll um die Geschichte der Deserteure von der Römer-Zeit über den Feudalismus bis in die Zeit des Entstehens der Nationalstaaten und ihrer Armeen gehen.

Dabei ist ihm eines wichtig: „Es wird kein Buch werden, das die Desertation als Lösung aller Probleme feiert; es ist nicht gedacht als strategische Anweisung, wie man Kriege verhindert.“ Und überhaupt: „Wenn etwas zur Parole wird“, sagt Dringenberg, „wird es für mich als Autor uninteressant.“

Und Heinrich Börner? „Ich denke, ich habe zu ihm gefunden, was es zu finden gibt“, sagt der Biograf nüchtern. Jetzt um jeden Preis weiter wo auch immer nach irgendwelchen Unterlagen zu suchen – er schüttelt den Kopf. Aber dann blitzt da doch ein urgründliches Interesse auf, gab es doch zu seinem Buch gerade in Hannover und Umgebung viel positive Resonanz und gute Kritiken. „Ich hatte gedacht, vielleicht liest irgendjemand den Namen ‚Heinrich Börner‘, wird hellhörig und ihm oder ihr fällt irgendetwas dazu ein.“ Doch bisher hat sich noch niemand gemeldet.

Hinweis: Wir haben das Geburtsjahr von Bodo Dringenberg dank eines aufmerksamen Lesers korrigiert.

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