das portrait: Ex-Amateurkicker Kevin Behrensist nun Nationalspieler
Neunzig Minuten saß Kevin Behrens am Samstagabend beim 3:1-Sieg der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen die USA auf der Bank. Trotzdem war es für den Stürmer von Union Berlin wohl eines der denkwürdigsten Spiele seiner Karriere. Als Bundestrainer Julian Nagelsmann ihn anrief und zur USA-Reise des DFB-Teams einlud, sei er „geschockt und überrascht“ gewesen. „Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht mal gedacht, dass ich es noch in die Bundesliga schaffe“, sagt der gebürtige Bremer. „Ich bin sehr, sehr stolz darauf, dass ich nie aufgegeben und immer an mir gearbeitet habe.“
Nagelsmann wollte noch einen kopfballstarken Stürmer haben, der auch intensiv nach hinten arbeitet. „Wenn wir am Ende noch ein Tor brauchen mit vielen Flanken, haben wir mit ihm einen zusätzlichen Spieler, der in der Box präsent ist“, sagte der Bundestrainer. Der Volksmund nennt diesen Spielertyp „Brechstange“. Solche Typen bringt die zur Raketenwissenschaft hochgezüchtete deutsche Nachwuchsarbeit nicht mehr hervor. Den dort ausgebildeten Offensivspielern wird nun ein 32-jähriger Neuling vorgezogen, der in seiner Laufbahn lediglich zwei Jahre in einem Leistungszentrum verbracht und der bis vor fünf Jahren noch in der Regionalliga gespielt hat.
Wenn hierzulande über Mittelstürmer diskutiert wird, geht es um mehr als um eine von elf Positionen auf dem Spielfeld. Dann geht es mindestens um ein Kulturgut. Das ist im Fußball nur noch vergleichbar mit dem Libero – aber während der schon längst ausgestorben ist und immer nur mit einer einzigen ehemaligen Lichtgestalt verbunden wurde, handelt es sich beim Mittelstürmer um eine Dynastie, deren Erbfolge ins Stocken geraten ist.
Uwe Seeler, Gerd Müller, Horst Hrubesch, Rudi Völler und Miroslav Klose haben noch keinen Nachfolger gefunden. In der goldenen Zone zwischen Torlinie und Elfmeterpunkt, von wo nach DFB-Statistik 85 Prozent der Tore erzielt werden, ist allzu oft Niemandsland – verursacht durch die mangelnde Schulung individueller Durchsetzungsfähigkeit in der Jugend.
Bei Bremen nur in der dritten Herren
Das hat zwei ehemalige Werder-Spieler im fortgeschrittenen Fußballer-Alter noch zu Nationalspielern gemacht, die beide für ihre Mentalität und Willensstärke bekannt sind. Doch während Niclas Füllkrug schon in seiner Jugend bei Werder als großes Talent galt und dort mit 19 Jahren sein Bundesliga-Debüt feierte, kam Behrens nicht über die dritte Herren-Mannschaft der Grün-Weißen hinaus. Die Kindheit hatte er beim ATS Buntentor auf der anderen Weserseite vom Stadion verbracht und war in der Jugend zunächst zum SC Weyhe und mit 17 Jahren in Werders U19 gewechselt, wo Trainer Mirko Votava ihn als rechten Verteidiger einsetzte.
Nachdem er es bei Werder nicht in den Profibereich schaffte, nahm der 1,85 Meter große Behrens einen langen Umweg über die harten Plätze der vierten und dritten Ligen der Republik. Über Wilhelmshaven, Hannover 96 II, Aachen, Essen und Saarbrücken schaffte er es 2018 beim SV Sandhausen doch noch in die Zweite und 2021 bei Union Berlin schließlich in die Erste Liga. Beim Champions-League-Teilnehmer ist er mittlerweile Stammspieler und sorgte am ersten Bundesliga-Spieltag mit drei Kopfballtoren gegen Mainz 05 für so viel Aufsehen, dass er am Dienstag gegen Mexiko möglicherweise sein Debüt in der Nationalmannschaft feiert.
Weiter gehen seine Gedanken noch nicht: „Die EM 2024 habe ich nicht als Ziel, das muss ich ehrlicherweise sagen. Ich versuche, im Moment zu leben und nicht von irgendeiner Europameisterschaft zu träumen.“ Ralf Lorenzen
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