Angriff auf Israel: „Wir rannten, Richtung Sonne“

Bar Vilker, Galit Goldcher und Raz Ronen haben das Massaker der Hamas überlebt. Nun trauern sie zusammen und fürchten um ihren Freund Schahak.

Bar Vilker, Galit Goldcher und Raz Ronen

Bar Vilker, Galit Goldcher und Raz Ronen haben das Massaker auf dem Supernova-Festival überlebt Foto: Felix Wellisch

MODI'IN taz | Der Moment, als die Nachrichtensprecherin aufhört zu reden, ist der, auf den Bar Vilker, ­Galit Goldcher und Raz Ronen gewartet haben. Auf der Terrasse verstummen die Gespräche. Alle Blicke richten sich auf den Fernseher. Der Sender Kanal 12 blendet am Mittwochabend Fotos und Namen der neu identifizierten Opfer des Hamas-Überfalls auf den Süden Israels ein.

Dutzende, minutenlang. Als der Nachrichtenjingle wieder einsetzt, sinkt Bar zurück in die Sofakissen: „Niemand diesmal“, sagt er erleichtert. Es bedeutet aber auch: Keiner weiß, ob ihr Freund Schahak Madar in einem Hamas-Versteck in Gaza festgehalten wird oder überhaupt noch am Leben ist.

„Ich habe ihn das letzte Mal am Samstag kurz nach Sonnenaufgang gesehen, als die ersten Raketen geflogen sind“, erinnert sich der 26-jährige Vilker. Zusammen mit Goldcher und Ronen war Vilker, der in Tel Aviv in der Hightechbranche arbeitet und einen schmalen Nasenring trägt, einer der Besucher des Supernova-Festivals.

Bis am Morgen Hunderte Bewaffnete der Hamas die Sperrzäune zu Israel durchbrachen und Dörfer, Armeeposten und das Festival stürmten. „Niemand hat verstanden, was los ist“, sagt Goldcher. Erst als aus zwei Richtungen Schüsse fallen, wird ihm klar: Hier passiert etwas Größeres.

Willkürliche Hinrichtungen, verbrannte Kinder

Die Gruppe springt ins Auto und fährt in Richtung Ausgang, doch auch dort warten die Angreifer mit Sturmgewehren. „Wir haben das Auto stehen lassen und sind gerannt, immer in Richtung Sonne, weg von Gaza“, sagt Vilker. Mit ihnen Hunderte andere Besucher, viele nach einer durchtanzten Nacht. „Ich höre noch dieses Sirren der Kugeln über unseren Köpfen, während links und rechts Menschen getroffen werden und fallen.“

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Mehr als vier Stunden schleichen sie sich mit Hunderten anderen Überlebenden in Richtung Osten, während von den Orten Ofakim und Re’im Schüsse herüberhallen. Nach 15 Kilometern erreicht die Gruppe das Dorf Patisch. Nach und nach sammeln sich Überlebende in der kleinen Ortschaft, verängstigt, erschöpft und dehydriert. „Es war reines Glück, dass sie Patisch wohl übersehen haben, wir wären ein leichtes Ziel gewesen“, sagt Goldcher. „Und die Armee war noch immer nirgends zu sehen.“ Freiwillige fahren Vilker, Goldcher und Ronen nach Tel Aviv.

Noch immer steht die Frage im Raum, wie es der Hamas gelingen konnte, unter dem Radar der israelischen Sicherheitsbehörden einen Angriff dieser Größe vorzubereiten. „Ich fühle mich nicht mehr sicher“, sagt Goldcher. Nicht nur, weil Armee und Geheimdienste überrascht worden sind. „Auch weil ich nicht wusste, dass es diesen Hass auf uns gibt.“

Nach und nach hätten sie Geschichten von Freunden und aus den Medien erfahren. Von willkürlichen Hinrichtungen, verbrannten Kindern. Von dem Freund vom Festival, der in einem Kühlschrank versteckt überlebt habe, während er einer Vergewaltigung zuhören musste. Ein anderer habe sich in einer Mülltonne versteckt. „Sie haben ihn wohl gehört und in seinem Versteck erschossen, ohne nachzuschauen, wer er war“, sagt Vilker.

Die Realität sinkt nur langsam ins Bewusstsein

Von der Terrasse in Modi’in fällt der Blick in der Dämmerung auf sanfte Hügel. Goldcher wirkt müde und zupft an ihren Locken, Ronens Miene lässt sich kaum entnehmen, was in ihm vorgeht. Vilker hingegen wirkt wach und aufmerksam. Er erzählt klar und aufgeräumt. „Meine Geschichte zu teilen ist das Mindeste, was ich gerade tun kann“, sagt er. Auf der anderen Seite des Tals funkeln die ersten Lichter im palästinensischen Beit Sira. Es könnte ein idyllischer Blick sein, wenn dazwischen nicht die Sperranlage verlaufen würde, die Israel um das besetzte Westjordanland herum und über weite Strecken auf palästinensischem Gebiet errichtet hat.

Die drei Überlebenden sind hier bei Chaim und Niza Halfon untergekommen, den Eltern einer Freundin. Sie haben die Gruppe zu sich geholt, als kurz nach ihrer Rückkehr nach Tel Aviv eine Rakete im Stadtzentrum eingeschlagen war. Hier versuchen die drei Freunde zu verarbeiten, was passiert ist. „Ein Psychologe hat mir gesagt, es ist wichtig, in Bewegung zu bleiben, über alles zu sprechen, was an Gefühlen kommt, mit Menschen zu sein, denen ich vertraue“, sagt Vilker. Die Realität sinke nur langsam ins Bewusstsein, sagen die Freunde.

„Gestern waren wir auf der Beerdigung einer Freundin in Tel Mond, danach konnte ich kaum noch atmen“, sagt Vilker. Die Reden ihrer Eltern zu hören und an ihrem Grab zu stehen. „Das hätte ich sein können.“ Es sei schwer zu akzeptieren, dass es reiner Zufall war, dass ihre Rollen nicht vertauscht seien.

Nun werden nach und nach die Namen der Getöteten bekannt. Schahak Madar war bisher nicht dabei. Stattdessen haben seine Angehörigen sein Handy im Gazastreifen lokalisiert. Ob er auch dort und am Leben ist, ist bisher nicht bekannt. Noch immer wurden zahlreiche Leichen aus den überfallenen Dörfern nicht identifiziert.

Die meisten Opfer sind Zivilisten

Schahak könnte eine von etwa 150 Geiseln sein, die die Hamas verschleppen konnte. Die Terroristen haben damit ein grausames Faustpfand gewonnen. Israel ist in seiner Geschichte weit gegangen, um gefangene Staatsbürger zu befreien. Der Soldat Gilat Schalit, der sich fünf Jahre in den Händen der Hamas befand, wurde im Austausch gegen mehr als 1.000 palästinensische Gefangene freigelassen. Im Fernsehen laufen Nachrichten: Seit Samstag fliegt die Luftwaffe Angriffe auf den ­Gazastreifen. Im Gegensatz zu früheren Operationen verzichtet die Armee offenbar immer wieder darauf, die Bewohner vorzuwarnen. Die meisten ­Opfer der jetzigen Angriffe sind Zivilisten.

Angesichts dieses Vorgehens ist unklar, welche Rolle das Schicksal der Gefangenen derzeit für das militärische Vorgehen Israels hat. Finanzminister Bezalel Smotrich hatte bereits am Samstag gesagt, die Armee solle „die Hamas brutal treffen und die Angelegenheit der Gefangenen nicht wesentlich berücksichtigen“. Vilker vertraut darauf, dass die Armee die richtige Entscheidung trifft: “Nach dem, was die Hamas und die Leute, die über die Grenze gekommen sind, getan haben, weiß ich nicht, ob es nicht besser wäre, gleich zu sterben, als jahrelang in ihrer Gefangenschaft zu verbringen.“

Die israelische Regierung hat Gaza seit Tagen von Strom, Wasser und Lebensmittellieferungen abgeschnitten. Rund eine Million Menschen im Norden Gazas wurden aufgefordert, sich in den Süden zurückzuziehen. Ein Einmarsch mit Bodentruppen könnte kurz bevorstehen.

Auf der Terrasse in Modi’in werden im Fernsehen die jüngsten Totenzahlen verlesen und verkündet, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Oppositionsführer Benny Gantz sich auf eine Notstandsregierung geeinigt haben. Es gibt selbst gebackene Pizza zum Abendessen.

Angriffe auf Wohnviertel

Angriffe auf Wohnviertel als Reaktion auf den Terror der Hamas? Vilker winkt ab: Er habe stets geglaubt, die normalen Menschen in Gaza seien von der Hamas unterdrückt und würden deren Mittel ablehnen. Nach dem Angriff aber hätten sie auf Videos gefeiert und die Gefangenen auf der Straße misshandelt. „Seitdem denke ich, da ist kein Platz mehr für Mitleid, es wird uns andersherum auch nicht gewährt.“

„Ich kann mich an keinen vergleichbaren Moment in der Geschichte Israels erinnern“, sagt Chaim Halfon, der Gastgeber, beim Abendessen. Sein Sohn habe sich nach dem Angriff freiwillig bei der Armee gemeldet, er wolle sein Land verteidigen. „Ich teile seinen Enthusiasmus nicht, aber ich weiß nach diesem Anschlag: Wir haben keine Wahl, wir müssen kämpfen.“

Er deutet auf die Lichter von Sira auf der anderen Seite des Tals. Wenn Raketenalarm ausgelöst werde, höre er die Palästinenser manchmal auf der anderen Seite feiern. Das sei früher anders gewesen. Chaim Halfon wohnt seit mehr als 20 Jahren hier und erinnert sich noch an den Austausch mit den Menschen dort, bevor der Zaun beide Orte getrennt hat.

Manche Palästinenser würden nun vielleicht einen Sieg feiern, aber für Halfon ist etwas zerbrochen. „Ich bin kein emotionaler Mensch, aber ich fühle aus tiefstem Herzen, etwas wie dieser Angriff darf nie wieder passieren. Wir haben noch einen langen Krieg vor uns, und am Ende werden wir gewinnen, auch wenn es kein fröhlicher Sieg wird.“

Der Angriff hat etwas losgetreten

Plötzlich heult eine Sirene in der Nähe auf. Eine Minute später zieht Ronen die schwere Metalltür des Schutzraums von innen zu. Zwischen Regalen mit eingelagerten Weingläsern, Tellern und Sitzpolstern warten Chaim Halfon, seine Frau Niza und ihre drei Gäste mit zwei Hunden. Kurz darauf gibt es Entwarnung: Fehlalarm.

Nach dem Essen sitzt Vilker alleine am Rand der Terrasse. Der Riss gehe sogar noch tiefer, sagt er: „Ich hätte nie gedacht, das einmal zu sagen, aber auch die arabischen Israelis müssen sich entscheiden. Sie müssen zeigen, dass sie auf unserer Seite stehen und verurteilen, was uns passiert ist. Sonst können sie nicht mehr Teil dieses Landes sein.“ Er selbst habe immer auf Frieden gehofft. Jetzt sehe er diese Möglichkeit nicht mehr. Dass jeder fünfte Israeli arabisch oder palästinensisch ist? „Völlig egal! Wir haben lange genug halbe Sachen probiert.“

Der brutale Angriff der Hamas – er hat etwas losgetreten im Nahostkonflikt; eine Dynamik, die derzeit kaum noch jemand zu kontrollieren scheint.

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