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Die WahrheitDie gute alte Ware Humanität

Ähnlich der Idee der Emissionszertifikate sollen Migrationszertifikate die Zuwanderung in die EU steuern. Der Markt wird es, so will es die FDP, richten.

Illustration: Barbara Wrede

Es ist sonnig in der Bundespressekonfe­renz, FDP-Chef Christian Lindner ist braungebrannt und gut gelaunt. Nicht einmal das Knöllchen, das er nachher an der Windschutzscheibe vorfinden wird, weil er seinen Porsche mal wieder diagonal auf dem Frauen- und Behindertenparkplatz abgestellt hat, kann ihm heute die Stimmung verderben. Denn er hat die Lösung.

„Hier wird heute die europäische Migrationspolitik auf völlig neue Füße gestellt“, jubelt Lindner, während neben ihm Nicola Beer, Vizepräsidentin des EU-Parlaments, eifrig nickt. „Und diese Füße taugen was“, fährt Lindner fort, „denn diese Füße sind aus Geld.“

Dritter auf dem Podium ist Prof. Dr. Jobst von Hankel, Wirtschaftswissenschaftler am FDP-nahen Jürgen W. Möllemann-Institut für Fallzahlen und pfiffige Ideen sowie Leiter des parteieigenen Thinktanks FutureLab Migration.

„Wir wollen das unwürdige Schachern unter den EU-Staaten zum Ende bringen“, hebt von Hankel an, doch Lindner fällt ihm ins Wort, den markigen Spruch will er selbst abgreifen: „Und zwar wollen wir das unwürdige Schachern ersetzen durch ein würdiges Schachern.“ In Lindners Kunstpause will kein Applaus erklingen, aber das kann dem FDP-Chef an diesem Tag nicht die Laune verderben.

Christian Lindner grinst wie ein Honigkuchenpferd

„Die Idee ist so einfach wie genial. Wir machen es wie beim Klima. Wir geben Flüchtlingszertifikate, also Migrationszertifikate aus. Den Rest regelt der Markt.“ Christian Lindner grinst wie ein Honigkuchenpferd, das soeben von der GQ zum Mr Silverdaddy 2023 gewählt wurde. Wie aber soll das denn funktionieren? Wir sind nicht die einzigen Medienvertreter, die etwas skeptisch dreinblicken.

„Der Professor wird es Ihnen erklären“, sagt Nicola Beer, um auch mal etwas zu sagen. Dann erklärt der Professor. Er ist ausgewiesener Fachmann, Ökonom mit zeitweiligem Harvard-Lehrstuhl, 2017 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften für seine bahnbrechenden Forschungen zum angewandten Zynismus in der Moralwirtschaft.

„Wir müssen die Migration mit dem Auge des Markes betrachten“, doziert er höchst professoral. „Der Mensch an sich hat ja keinen Marktwert. Es sei denn, er ist Konsument, aber das sind ja zum Glück die meisten – ausgenommen die armen Schlucker, die wir an den EU-Außengrenzen aus dem Wald oder dem Meer ziehen. Die sind keine Marktteilnehmer und, seien wir ehrlich, werden es auch nicht so schnell.“

Durch die Bundes­presse­konferenz geht ein ungläubiges Zischen, wie es entsteht, wenn rund 60 Jour­na­lis­ten beinahe gleichzeitig die Atemluft zwischen den Zähnen einziehen. Selbst Christian Lindner senkt kurz seinen Blick zur Tischplatte, als überlege er, wann die mal wieder abgeschliffen werden muss und wer das bezahlen soll.

„Und da kommt der Zertifikatshandel ins Spiel“, beeilt sich von Hankel zu erläutern. „Denn wir schreiben jedem Flüchtling einen Wert zu.“ Das Auditorium atmet kollektiv aus. Der Gedanke, den der freidemokratische Ökonom nun ausbreitet, ist tatsächlich einfach: Für jeden anlandenden Flüchtling gibt die EU ein Zertifikat aus. Dieses Zertifikat hat einen noch zu bestimmenden Wert. Jedes Land, das keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, muss dies nicht mehr bei tagelangen EU-Gipfeln aushandeln, sondern kauft sich entsprechende Zertifikate.

Kommen immer mehr Flüchtlinge an und wollen zu viele europäische Länder keine oder zu wenige davon, steigt der Preis. „Unter Umständen steigt er sogar so hoch, dass es selbst für Ungarn oder Polen lukrativer sein könnte, Menschen aufzunehmen, statt sich freizukaufen!“, frohlockt der Ökonom. „Der Markt selbst regelt die Willkommenskultur!“

Auch Christian ­Lindners Augen glänzen: „Sie sehen, meine ­Damen und Herren, wir berechnen hier Mitmenschlichkeit gerade völlig neu! Humanität wird erst dann möglich, wenn wir Flüchtlinge als Ware betrachten.“ Der Professor ergänzt: „Na, und wenn plötzlich weniger Migranten kommen oder alle EU-Staaten linksliberal regiert werden, sinkt automatisch der Preis der Zertifikate“. Lindner unterbricht ihn sofort: „Dieses Szenario betrachten wir besser nicht.“

„Nein nein“, widerspricht von Hankel. „Das ist schon wichtig. Denn ohne neu eintreffende Migranten sänke natürlich der Preis der Zertifikate, sie würden wertlos. Es ist also im Interesse aller, dass der Zustrom von Flüchtenden nie ganz abreißt.“

Ein höchst joviales Lachen

Die versammelte Journaille schüttelt ungläubig den Kopf. „Und das funktioniert?“, fragt der Korrespondent der FAZ. „Das funktioniert“, ist Jobst von Hankel überzeugt. „Zumindest solange die Zahl der in der EU unerwünschten Flüchtlinge höher ist als die Zahl der tatsächlich eintreffenden Menschen. Aber da können wir in der EU wohl immer von ausgehen.“ Er lacht jovial.

Und was geschieht mit den Gewinnen aus dem Handel? „Ein sehr guter Punkt“, ergreift die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Beer das Wort: „Die EU kann damit finanzieren, was die geflüchteten Menschen am dringendsten brauchen: Unterbringung, Qualifizierung, Abschiebung, so was halt.“

Eine Kollegin vom Evangelischen Pressedienst fragt, ob es nicht zynisch wäre, auf eine solche Weise mit Menschen zu handeln. Auf die Frage scheint Christian Lindner nur gewartet zu haben. „Nein, meine Dame. Zynisch ist, was die Schleuser tun. Wir handeln hier ja gar nicht mit Menschen. Der ganze Zertifikatshandel geht ja um keine Menschen. Also kann er gar nicht menschenfeindlich sein.“

Wir sind noch dabei, den Ansatz zu durchdenken. Gäbe es in einem Land beispielsweise öffentliche Naziaufmärsche gegen Geflüchtete, wüsste alle Welt: Besagtes Land muss jetzt dringend Zertifikate kaufen. Der Preis würde steigen, weswegen auch die EU mehr für den Migrations-Etat einnähme. Aber könnte es nicht Missbrauchsmöglichkeiten geben? Kein Finanzderivat, an dem sich nicht Menschen schon unmoralisch bereichert hätten.

„Ja, der Kollege von der taz bitte?“, werden wir aufgerufen. Wenn diese Flüchtlingszertifikate dann frei an den Börsen handelbar sind, dann könnten findige Trader ja auf die Idee kommen, auf steigende oder fallende Kurse zu wetten, „mit Termingeschäften und allem Pipapo“, geben wir zu bedenken. „Oder kriminelle Insidergeschäfte: Ich bin Schleuser und wette auf sinkende Kurse …“ – „… und dann gehen plötzlich ein paar Ihrer Boote unter“, denkt der Professor unseren Gedanken zu Ende. „Kann ich nicht empfehlen, dafür gibt es ein saftiges Bußgeld von der EZB.“

„Sie sehen, auch das regelt der Markt“, freut sich Christian Lindner stellvertretend für die FDP und schließt die Pressekonferenz so begeistert, wie er sie eröffnet hat: „Vielen Dank für Ihr Interesse an einer gänzlich neuen Grenzhumanität.“

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