Die Wahrheit: Treu wie Efeu
Pflanzen so gelehrig wie Hunde – eine Praxis für Floral-Psychologie erregt mit Blumentrainings bundesweit Aufsehen.
„Nachdem unser Schnuffel über die Regenbogenbrücke gegangen ist, war mein Herz gebrochen“, erzählt uns Ilse Keppelheimer und wischt sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel. Aber die rüstige 68-Jährige fasst sich wieder und blickt lächelnd ans andere Ende der Leine. „Ein neuer Hund kam gar nicht in Frage. Schon wegen des Vermieters. Aber dann hat mir meine Freundin von einer Bekannten erzählt, die nur Positives über ihr Lieschen berichten konnte …“
Frau Keppelheimer wendet sich ihrem neuen Liebling zu: „Sunny, ruhig!“ Das frischgebackene Pflanzenfrauchen ermahnt liebevoll den jungen Steckling, der die alte Dame seit einigen Tagen durch die Straßen ihrer westfälischen Nachbarschaft begleitet.
„Sie testet ihre Grenzen, aus, da muss man hinterher sein“, erklärt Keppelheimer. „Natürlich war das anfangs eine Umstellung, wir hatten ja immer Rüden. Und Sonnenblumen sind ja auch vom Grundcharakter mal ganz anders als Dackel. Aber deswegen gibt es ja die offene Sprechstunde beim Experten, und da gehen wir regelmäßig hin. Ist ja nah bei. “
Hilfe bei Wald- und Wiesenadoptionen
Die Warteschlange vor der ehemaligen Friedhofsgärtnerei in der südwestlich von Münster gelegenen Ortschaft Ottmarsbocholt ist lang. Das Beratungsangebot in der neuen Praxis für Floral-Psychologie scheinen viele Pflanzenhalter wahrzunehmen.
Vor uns steht ein ein junges Paar mit einem nervös wirkenden Farn – eine Wald- und Wiesenadoption, wie wir erfahren. Davor wiegt ein Mittdreißiger eine Monstera mit Maulkorb in den Armen. Er hat das exotische Gewächs aus einer Zwangszucht befreit. Ein Mädchen ist im Wald versehentlich auf ein Vergissmeinnicht getreten, das nun Erinnerungslücken hat. Ein Sportlehrer will seine Fetthenne auf Diät setzen. Kurz: Wir sehen Menschen aller Altersklassen mit Grünzeug aller Art, mit Kräutertöpfen, Büschen und Zierblumen. Sogar ein uralter Mammutbaum soll plötzlich auf Kommandos hören lernen. Doch bislang zerrt Frauchen vergeblich an der Leine, der grüne Riese bleibt nicht bloß wie angewurzelt an seinem Stammplatz im Park stehen.
Doch das tut der Stimmung keinen Abbruch: Man nickt sich zu, schaut diskret bis bewundernd auf Blütenstand und Wuchsrichtung der mitgebrachten Schützlinge. Die Atmosphäre ist wesentlich entspannter als in einer Kleintierpraxis. Das mag daran liegen, dass Begonien wesentlich seltener Brathähnchen im Ganzen verschlucken als beispielsweise Beagle und daran noch im Wartezimmer zu ersticken drohen.
Trainierte Erbsen
Wir dürfen sogar als Erste ins Sprechzimmer, als der Grünzeug-Trainer Stefan „Pflanzenflüsterer“ Hunkesiepen die Glastür zum Gewächshaus öffnet. Er begrüßt uns am Behandlungstisch, auf dem bis vor Kurzem noch Kränze gebunden wurden, und gerät direkt ins Schwärmen: „Die Idee der Pflanzenabrichtung kommt ja ursprünglich nicht von mir“, verrät er, „aber ich habe sie weiterentwickelt. Und ein bisschen angepasst.“
Während Hunkesiepen frische Erde auf den Tisch schaufelt, erinnert er sich an die Initialzündung: „Im Internet las ich von den Versuchen der Biologin Monica Gagliano. Die sagt nicht nur, dass Pflanzen lernen können, sondern dass man Erbsen trainieren kann. Fast wie Hunde. Und das habe ich direkt ausprobiert! Vielleicht bin ich ein Naturtalent, vielleicht ist es mein beruflicher Hintergrund, aber es hat beim ersten Mal geklappt. Ich habe zu der Bohnenranke gesagt: ‚Bleib!‘, und die hat sich tatsächlich keinen Millimeter bewegt. Und das war mitten im Beet, am Mittag.“
Ab da gab es für Hunkesiepen kein Halten mehr. Der ehemalige Sepulkral-Florist fand seine Berufung, eröffnete die Kleinpflanzenpraxis, und wächst mit seiner Klientel: „Hier geht es längst nicht mehr darum, Mimosen für den Ernstfall abzuhärten, sondern ehemaligen Tierhaltern eine Perspektive zu eröffnen. Der Gedanke des Umweltschutzes steht ganz oben, aber eben auch Gehorsam und gegenseitige Erwartungshaltung sind wichtige Aspekte, damit die Beziehung blühen kann.“
Auslauf oder Photosynthese?
Unruhig betritt Ilse Keppelheimer mit ihrer Sunny im Arm den Behandlungsraum. Es scheint ein akutes Problem aufgetreten zu sein. „Kann es sein, dass die jetzt schon läufig wird“, erkundigt sich die besorgte Besitzerin. „Unwahrscheinlich“, beruhigt Hunkesiepen. „Aber natürlich will die jetzt Photosynthese betreiben, bei dem Wetter. Da müssen Sie die Natur wirklich auch mal machen lassen …“
Die ehemalige Dackelhalterin Keppelheimer reagiert skeptisch: „Neuerdings habe ich das Gefühl, die Sunny will auch gar nicht mehr kuscheln. Gut, den Fellwechsel vermisse ich jetzt nicht, aber vielleicht, dass die in der Wohnung mal von sich aus zu mir kommt. Soll ich die mit Kompost locken, Herr Doktor?“
Hunkesiepen erklärt geduldig: „Was Ihre Sunny braucht, Frau Keppelheimer, ist ein fester Platz. Draußen, im Garten. Wasser und Licht, dann wächst die zu einer starken Sonnenblume …“ Ilse Keppelheimer wirkt entrüstet: „Ne, Herr Doktor, da kennen Sie die Sunny ganz schlecht. Die liebt ihren Auslauf! Also, wenn die noch wachsen sollte, habe ich mir jetzt so einen Bollerwagen geholt, da kann die in der ganzen Nachbarschaft rumschnuppern. Solange ich da aufpasse, dass da keine Bienchen drangehen …“
Tumult mit Fliegenfalle
„Ihre Pflanze, Ihre Verantwortung“, entgegnet Hunkesiepen und schaut auf die Uhr. Der Abschied fällt etwas unterkühlt aus, selbst Sunny lässt die Blätter hängen. „Manche Kunden sind beratungsresistent, aber zahlen müssen die trotzdem“, murmelt der Pflanzenflüsterer. „Letzte Woche war ein ehemaliger Oberförster hier, der seine Kiefernschonung im Nahkampf gegen den Borkenkäfer ausbilden wollte. Was sollte ich den Bäumen sagen: Genau: Nadeln spitzen und stillhalten …“
Ein Tumult in der Warteschlange beendet unser Gespräch abrupt. Im Nachhinein erfahren wir, dass ein unschöner Beißvorfall mit einer Venusfliegenfalle zur vorläufigen Schließung der Praxis führte. Wir wünschen allen Betroffenen ein gesundes Nachwachsen.
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