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Der HausbesuchSie setzt die Welt ins Bild

In der Fotografie geht es nicht nur ums Sehen, es geht auch ums Gesehenwerden. Anna Spindelndreier weiß, was gemeint ist.

Sie zeigt ihre Liebe zur Fotografie Foto: Maximilian Mann /DOCKS

Leute wie Anna Spindelndreier erweitern den Blick. Mit ihrer Arbeit als Fotografin und als Bildredakteurin versucht sie, aufzuklären und auf Missstände aufmerksam zu machen.

Draußen: Im Dortmunder Stadtteil Kreuzviertel sehe es ein bisschen wie in Frankreich oder wie in Berlin-Prenzlauer Berg aus, sagt Anna Spindelndreier: viel Grün, Villen, Altbauten, kleine Cafés, Familien mit Kindern, Künstler*innen, Vinotheken und kleine Restaurants. Die Straße vor dem Altbau, in dem sie wohnt, ist von Bäumen gesäumt. An diesem Samstagnachmittag regnet es, die Autos rauschen auf der nassen Straße vorbei. Als die Sonne wieder rauskommt, werden die Pfützen zu Scheinwerfern, die weißen Hortensien glänzen. „Es ist wie eine Bubble“, sagt Anna Spindelndreier. „Ich habe hier alles und brauche den Kiez gar nicht zu verlassen.“ Unweit und das Altstadtflair kontrastierend ist das Westfalenstadion des BVB. „Tempel“ nennen es viele Fans. „Amor“ – „Liebe“ liest man auf einer Wand als Graffiti.

Drinnen: „Willkommen in meinem kleinen Reich“, sagt Spindelndreier und schaltet die Kaffeemaschine an. Alle Fenster der Küche und des Wohnzimmers gehen zur Straße. Im Sommer hat sie Vormittagssonne. Sie scheine zwischen den Bäumen, das sei schön. Die Wohnung ist schlicht, es hängen kaum Bilder an den Wänden. „Ich mag es, auf die weißen leeren Wände zu schauen.“ Spindelndreier ist Fotografin. Würde sie Landschaften fotografieren, würde sie vielleicht mehr aufhängen. So gibt es nur ein Foto von Palmen, das in San Diego, USA, entstanden ist, als Spindelndreier für ihr Buch „Sit ‚N‘ Skate“ einen der besten Rollstuhl-Skater fotografierte. Außerdem stehen einige Bücher von Annie Leibovitz, ihrer Lieblingsfotografin, in einem Regal. Dazu einige Zimmerpflanzen und auf der Kommode als Deko ein Blumenkranz und alte Kameras, eine Polaroid, eine Mamiya.

Anfänge: An ihr allererstes Bild erinnert sich die 36-Jährige nicht. „Es muss eines von diesen gewesen sein.“ Sie kramt in einer kleine Kiste und zeigt ein Foto ihrer Kommunion, auf dem ihr Bruder und ihre Cousins und Cousinen ernst in die Kamera schauen. Sie machte das Foto mit ihrer ersten Kamera, einem Geschenk des Patenonkels. Sie war damals neun, die Kamera funktioniert heute noch. Fotos von Klassenfahrten, Ferienlager und Skiausflügen liegen auch in der kleinen Kiste. Dann zeigt Anna Spindelndreier andere Bilder: Kirchen und Museen, Landschaften und Sonnenuntergänge. „Ganz viele Sonnenuntergänge“, sagt sie. Es war ihr Vater, der das Interesse an der Fotografie bei ihr weckte. Er war Verleger, hatte einen Leuchttisch, wo er sich durch eine Lupe Dias anschaute, die er für die Bücher bekam. Es seien wunderschöne Abbildungen der Natur gewesen. „Das war für mich wie die Tür zur anderen Welt.“

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Kindheit: 1987 ist Anna Spindelndreier in Hamm (Nordrhein-Westfalen) auf die Welt gekommen. Mit Achondroplasie, der häufigsten Kleinwuchsform. Diese körperliche Eigenschaft sei indirekt ihr Markenzeichen als Fotografin geworden, sagt sie. Und: Sie könne behaupten, dass sie eine schöne Kindheit hatte. Ihre Eltern haben versucht, ihr und den Brüdern alles zu ermöglichen. Sie war die erste in der Familie mit Abitur. „Dennoch war meine Kindheit auch geprägt von Körperakzeptanz, von Arzt- und Logopädie-Besuchen.“ Ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie 14 Jahre alt war. Dass sie Hamm verlassen würde, war Spindelndreier lange vor ihrem Wegzug klar. Das Beste in ihrer westfälischen Heimatstadt war die gute Zuganbindung, sagt sie. „So bin ich schon als Teenagerin viel mit dem Zug in andere Städte gefahren.“

Wie Licht in der Fotografie eingesetzt wird, ist eine Kunst Foto: Maximilian Mann/DOCKS

Wege: Als Anna Spindelndreier nach dem Abitur Fotografin werden wollte, riet ihr ihre Mutter davon ab. „Sie meinte, ich solle etwas,Vernünftiges' lernen, aber ich wusste, dass sie mich vor Ablehnung schützen wollte.“ Nach 80 Bewerbungen bekam sie doch einen Ausbildungsplatz und entschied, in Dortmund Fotografie zu studieren. Dort arbeitet sie heute als freie Fotografin, vor allem bei inklusiven Veranstaltungen. „Für die Ver­an­stal­te­r*in­nen ist es ein Plus, eine Fotografin wie mich dabeizuhaben.“ Außerdem ist sie vertretende Bildredakteurin bei der WirtschaftsWoche und war bis vor Kurzem auch Teil einer kreativen Agentur. Doch die Werbebranche sei nichts für sie, sagt sie, sie möchte zurück zum Fotojournalismus – und vor allem zum Aktivismus.

Engagement: Ob sie sich als Aktivistin bezeichne? Das könne sie nicht beantworten, sagt Spindelndreier, auch wenn andere sie als solche sehen – 2019 gewann sie den Edition F Award „25 Frauen, die mit ihrer Stimme unsere Gesellschaft bewegen“. Von 2007 bis 2017 setzte sie sich als Vorstand des Bundesverbands „Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien e. V.“ für die Interessen kleinwüchsiger Menschen ein. Außerdem unterstützt sie mit ihrer Fotografie ehrenamtlich das Modelabel „Auf Augenhöhe“, das Kleidung für kleinwüchsige Menschen entwirft.

Perspektivwechsel: „Die Bilderwelt, die wir in den Medien sehen, ist begrenzt“, sagt sie. „Es werden immer die gleichen Fotos benutzt, wenn es um Menschen mit Behinderung geht: jemand im Rollstuhl, weil der Zusammenhang klar sein soll, und Kinder mit Down-Syndrom, wegen des Niedlichkeitsfaktors“, sagt Spindelndreier. Das sei okay, doch es gehe auch anders. „Kleinwüchsige Menschen kommen zum Beispiel kaum vor.“ Deshalb porträtiert sie seit 2017 in einem langfristigen Projekt erfolgreiche kleinwüchsige Frauen deutschlandweit, etwa eine Beamtin oder eine Staatsanwältin, die dazu in kurzen Videoaufnahmen über ihre Berufe, ihre Laufbahn und ihren Alltag berichten.

Sichtbarkeit: Immer wenn Spindelndreier als Bildredakteurin die Möglichkeit hat, Fotos von Menschen mit Behinderung zu verwenden, um andere Themen zu illustrieren, tut sie das. „Ich würde mir wünschen, Models mit Behinderung bei einem Artikel über Mutterschaft zu entdecken. Auch wenn selbst ich zuerst über diese Bildsprache stolpern würde“, sagt sie. Sehgewohnheiten zu ändern sei ein Prozess. Außerdem ist Sichtbarkeit wichtig. „Wenn ich auf Veranstaltungen bin ohne Menschen mit Behinderung, ändert vielleicht alleine die Tatsache, dass ich da bin, etwas.“

Kein Hobby: Auf solchen Events wird die Fotografin mit Fragen wie „Ist das Ihr Hobby?“ oder „Ach so, Sie können das wirklich?“ konfrontiert. „Als würde ich gerne acht Stunden einfach so mit meiner Kamera rumlaufen.“ Diese Art von Kommentaren kommen vor allem von Männern, erzählt sie, die Fotografie sei immer noch ein männerdominierter Bereich. „Also schon mal Frau mit Technik ist schlimm; behinderte Frau mit Technik, um so schlimmer“, sagt Spindelndreier und lacht. Die Behinderung sei bei ihr natürlich da, aber als Hintergrund, nicht als Vordergrund. „Es geht um meine Leistung. Sie buchen mich nicht, weil ich kleinwüchsig bin, sondern weil ich gute Arbeit leiste.“

Dankbarkeit: „Ich fotografiere aus meiner Perspektive und Höhe“, sagt sie. Sie versuche, deshalb die Leiter, die sie immer bei sich hat, wenig zu benutzen. Auch weil damit alles länger dauert. „Ich bewundere Kolleg:innen, die in fünfzehn Minuten jemanden porträtieren können“, sagt sie. Bei Po­li­ti­ke­r:in­nen beispielsweise müsse alles „zack, zack, zack“ gehen. Sie arbeite deswegen lieber an eigenen Projekten, mit viel Zeit. Es mache auch einen Unterschied, ob sie Models mit oder ohne Behinderung fotografiere. „Ich kann mich in Models mit Behinderung hineinversetzen und habe durch meine ähnliche Biografie einen ganz anderen Zugang“, sagt sie. „Es ist ein bisschen, wie wenn eine Frau eine Frau fotografiert, nicht wenn ein Mann das tut.“ Ein weiterer wichtiger Aspekt sei für sie die Dankbarkeit, die Menschen mit Behinderungen, die sie fotografiert, zeigen. „Sie fühlen sich gesehen“, sagt Anna Spindelndreier. „Das hat für mich viel Wert, weil Dankbarkeit etwas ist, das immer mehr verloren geht.“

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