Rugby-WM in Frankreich: Ei der Erkenntnis

Die Rugby-WM hat einen idealen Spielort: Toulouse. In der Stadt wird der Sport gelebt, geliebt und zelebriert. Ein Ortsbesuch im Süden Frankreichs.

Kantersieg: Neuseelands Rieko Ioane (vorn) trägt seinen Teil zum 71:3 gegen Namibia bei.

Kantersieg: Neuseelands Rieko Ioane (vorn) trägt seinen Teil zum 71:3 gegen Namibia bei Foto: Christophe Ena/ap

Auf dem Place du Pont Neuf erwacht gerade das Leben, als von der gleichnamigen Brücke schon wieder die ersten Jubelschreie den morgendlichen Frieden stören. Am Ufer der Garonne, wo sich in Toulouse die Fanzone für die momentan laufende Rugby-WM befindet, hatte ein fünf Meter langes und etwa drei Meter hohes Rugby-Ei geankert. Das Monstrum muss sich losgerissen haben, denn nun rollt es unter dem Freudengeheul von einem Dutzend Rugby-Fans aus Neuseeland durch die Brückenpfeiler hindurch den Fluss hinunter.

Am Abend zuvor war auf der 220 Meter langen und ältesten Brücke der Stadt noch alles voller Menschen gewesen. Die halbe Stadt schien auf den Beinen zu sein, um sich Frankreichs zweites WM- Gruppenspiel gegen Sparringspartner Uruguay auf der großen Leinwand oder in einer der zahllosen Bars auf der Rue de Metz anzusehen. Im Sauvage Social Pub sitzt inmitten von Franzosen auch Brad Rogers.

Im Getümmel

Der massige Australier betreibt in der Nähe von Sydney eine Brauerei und ist nur hier, um die einmalige Rugby-Atmosphäre von Toulouse zu inhalieren. „In Marseille oder Paris geht die Weltmeisterschaft außerhalb der Spieltage im Alltag fast ein wenig unter“, so der 54-Jährige. „Aber hier ist man eigentlich von früh bis spät immer drin im Rugby-Getümmel.“

Toulouse ist die viertgrößte Stadt Frankreichs. Aber es liegt eben nicht an der Küste – und die Pyrenäen, die sich unmittelbar südlich davon erheben, scheinen sie in ihrem Schatten zu verbergen. „Die rosarote Stadt“ wie sie, wegen ihrer prächtigen Architektur, auch genannt wird, ist bekannt für die Basilika Saint-Sernin, ein bedeutender Wallfahrtsort auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Warum Toulouse allerdings für eine ganz andere Art von Pilgern ein wahres „Mekka“ ist, das zeigen die vergangenen Tage.

In Frankreich läuft seit einer Woche die WM im Rugby und nicht wenige Enthusiasten aus der ganzen Welt sind angereist, um sich just in Toulouse die fünf angesetzten Gruppenspiele anzusehen. Und tatsächlich scheint einen an jeder Straßenecke ein Wandgemälde, ein Poster oder ein Slogan an das Spiel mit dem Ei zu erinnern. Es werden Theaterstücke über Rugby aufgeführt und selbst Galerien und Museen scheinen vom Rugby besessen.

Im Abattoirs-Museum, dem wahrscheinlich besten französischen Museum für zeitgenössische Kunst, erinnert man sich gern an eine Ausstellung über die „latente Erotik von Rugby-Posen“. Jedes Jahr Mitte Juni verwandelt sich während des Toulouse-Rugby-Festival der Place du Capitole für einige Tage in ein riesiges Rugbyfeld, auf dem jeder Besucher sich in den verschiedenen Positionen und Versionen des Rugbyspiel ausprobieren kann.

Die Toulousains scheinen das Spiel so sehr verinnerlicht zu haben, dass jeder die Statur eines Props, Flankers oder Verbinders hat und selbst am Verkehrspolizisten oder Gemüseverkäufer vermeint man die so charakteristischen Blumenkohlohren der Rugbyspieler wahrzunehmen. Irgendwo an einer Brücke hängt ein großes Banner mit der Aufschrift „Jeu de main, jeu de Toulousain“, was übersetzt so viel bedeutet wie: „Das Spiel mit der Hand ist das Spiel der Toulouser.“ Tatsächlich sagt man in Frankreich, dass das Ellipsoid Ende des 19. Jahrhunderts über wohlhabende Weinhändler nach Bordeaux gelangte, aber erst in Toulouse hätte man es aufgenommen und sei damit losgerannt.

21 Titel für Toulouse

Acht der zehn größten Städte der Verwaltungsregion Okzitanien haben einen Rugby-Verein in der ersten oder zweiten Profiliga, der Top 14 oder D2, darunter Montpellier, Perpignan, Bezier oder Narbonne. Allein in Toulouse gibt es über zehn Rugbyvereine und zwanzig städtische Spielfelder. Im Zentrum thront Stade Toulousain, die erfolgreichste Rugbymannschaft Europas. Seit ihrer Gründung im Jahr 1907 haben sie 21 nationale Meistertitel und seit 1996 fünfmal den Heineken Cup, eine Art Champions League, gewonnen.

Traditionell stellt Stade Toulousain auch einen Großteil des französischen Rugby-Nationalteams. Zehn der 33 Spieler im WM-Kader tragen eigentlich die Vereinsfarben Schwarz-Rot, so auch die zwei größten Stars und Posterboys der Gallier. Antoine Dupont, den Kapitän der Franzosen, halten einige Experten für den vielleicht vielseitigsten und talentiertesten Rugbyspieler überhaupt. Er kommt aus einem Dorf nicht weit von Toulouse und spielt seit sechs Jahren für Stade Toulousain. Der zweite große Hoffnungsträger für die WM war Spielmacher Romain Ntamack, dem allerdings kurz vorm Turnier das Kreuzband riss. Ntamack ist in Toulouse geboren und spielt, seit er fünf ist, für deren größten Rugbyverein.

Wie besonders die Rugby-Atmosphäre in Toulouse ist, das beschrieb vor der WM zum Beispiel Bismarck du Plessis. Der Südafrikaner hatte zwischen 2015 und 2021 für die Rugby-Mannschaft von Montpellier gespielt und schien immer noch beeindruckt zu sein: „Wir sind hier vor jedem Spiel mit einer besonderen Anspannung, vielleicht sogar mit etwas Angst gegangen. Die Anhänger hier sind ebenso euphorisch wie fast schon feindselig.

In Toulouse sind es 150 Meter vom Spielfeld bis zur Umkleidekabine. Man läuft auf diesem schmalen Weg und die Masse der Fans des Vereins schreit dich an und beschimpft dich, wie du es kaum glauben kannst.“ Auch Südafrikas jetziger Kapitän, Siya Kolisi, erinnerte sich an Toulouser Rugby-Atmosphäre: „Wir haben dort mit meinem Verein, den Sharks aus Durban, gespielt, und ich hatte regelrecht Gänsehaut. Ich habe schon in vielen Stadien gespielt, aber hier ist es einfach ‚Wow‘!“

Hier schlägt das Rugbyherz

Stade Toulousain muss sich auch bezüglich seiner Wirtschaftskraft kaum hinter den Spitzenvereinen der Fußballliga Ligue 1 verstecken. So werden beispielsweise jedes Jahr Merchandisingartikel im Wert von über 30 Millionen Euro verkauft. Nur einmal in diesem Jahr konnte der Fußball aus dem Schatten treten. Im Pokalfinale hatte der FC Toulouse, der noch nie Meister werden konnte, den Cup geholt und damit eine 66-jährige Titelflaute beendet.

Das ist in Frankreichs viertgrößter Stadt mit ihren knapp 500.000 Einwohnern allerdings schon längst wieder Schnee von gestern. Hier konzentriert man sich lieber auf die Gruppenspiele der Rugby-WM. Kurioserweise wurden Europas Rugby­hauptstadt nur fünf Gruppenspiele zugeteilt. Darunter sind eher überschaubar hochklassige Partien wie Georgien gegen Portugal oder Japan gegen Chile. Lediglich das Hingucker-Spiel der legendären All Blacks gegen Namibia konnte man nach Toulouse holen. Aber das war dann doch ein sehr deutliche Sache. Neuseeland, der Favorit, gewann am Freitag 71:3.

Allerdings spielt auch das am Ende keine große Rolle. Denn etwas steht für alle hier längst schon fest: Nirgendwo wird man den Rest des Turniers so sehr genießen wie hier, wo Europas Rugbyherz am lautesten schlägt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.