Umgang mit menschlichen Überresten: Die Ahnen sollen zurückkehren

Dass in Berlin lagernde Schädel aus Kolonialzeiten identifiziert wurden, ist ein Erfolg der Zivilgesellschaft. Nun fordern die Nachfahren sie zurück.

Drei Männer der Familie Molelia erhalten in Moshi den DNA-Bericht von einem Mann im weißen Hemd.

Familie Molelia erhält in Moshi den DNA-Bericht, in dem ihr Vorfahr Mangi Molelia identifiziert wurde Foto: Adam Graphics

BERLIN taz | Erstmals sind menschliche Gebeine von Opfern der deutschen Kolonialzeit per DNA-Vergleich mit heute lebenden Nachfahren identifiziert worden. Mit dieser sensationellen Nachricht ging die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) vorige Woche an die Presse. Was sie nicht tat: vorher die Familien informieren, die seit über 100 Jahren ihre vermissten Vorfahren suchen. Das haben am Samstag die zivilgesellschaftlichen Organisationen Flinn Works, Berlin Postkolonial und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) nachgeholt.

Auf einer Videokonferenz mit Nachfahren von Anführern der Chagga und Meru Communities, die in der Region um die Stadt Moshi am Kilimandscharo im heutigen Tansania leben, berichtete Konradin Kunze von Flinn Works über die Ergebnisse eines Abgleichs von DNA heute dort lebender Menschen mit Schädeln im Depot der SPK. Bei zwei Familien konnte eine direkte Verwandtschaft mit insgesamt drei Individuen festgestellt werden, deren Häupter nach Berlin verschleppt worden waren. Dabei handelt es sich mutmaßlich um die Chagga-Anführer Mangi Molelia aus Kibosho und dessen Bruder sowie um den Akida (Minister) Sindato Kiutesha Kiwelu aus Moshi.

Am 2. März 1900 waren 19 Mangis (Anführer, Chiefs) und Akidas in Old Moshi von deutschen Kolonialoffizieren wegen ihres Widerstands gegen die Besatzer öffentlich gehängt worden. Weil das Berliner Völkerkundemuseum in dieser Zeit brennend an Schädeln für rassistische Forschungszwecke interessiert war, wurden Teile ihrer Körper nach der Hinrichtung nach Berlin geschickt. „Es ist seither in den Familien mündlich überliefert, dass die Köpfe abgetrennt und nach Berlin geschickt wurden“, erklärte Kunze der taz. Die Familien forderten daher seit Jahrzehnten die Rückgabe. Unter anderem suchte der Aktivist von Berlin Postkolonial, Mnyaka Sururu Mboro, seit Langem nach einer Spur von Mangi Meli. Mboro kommt auch aus einem Dorf am Kilimandscharo, wo Meli bis heute als Freiheitskämpfer verehrt wird.

Das „kleine Wunder“ hat eine Vorgeschichte

Aber wie wahrscheinlich ist es überhaupt, dass bei einem Vergleich der DNA heute lebender Tansanier mit in Berlin lagernden Schädeln Übereinstimmungen gefunden werden? Ist es „ein kleines Wunder“, das nur dank „sorgfältigster Provenienzforschung“ zustande gebracht wurde, wie SPK-Chef Hermann Parzinger vorige Woche erklärte?

Ein wenig ärgert sich Kunze über diese Darstellung. Zum einen, weil die SPK überhaupt nur auf Druck aus der Zivilgesellschaft vor Jahren anfing, ihre umfangreiche „Sammlung“ von menschlichen Überresten zu erforschen. Auch das DNA-Projekt wäre ohne die Arbeit der Zivilgesellschaft nicht möglich gewesen. So haben Flinn Works und Berlin Postkolonial die Kontakte in die Communities aufgebaut, mit Menschen in den Dörfern gesprochen, deren Wissen über die Vorfahren und ihr Schicksal in der Kolonialzeit zusammengetragen.

Und sie haben Kontakte zu Nachfahren vermittelt: 2018 habe Berlin Postkolonial Isaria Meli, einen Enkel von Mangi Meli, nach Berlin eingeladen, wo er eine erste Speichelprobe bei der SPK abgab, so Kunze. Die habe allerdings keinen Treffer ergeben. Auch bei den jetzigen Ergebnissen, in die weitere Schädel einbezogen wurden, sei keine Übereinstimmung gefunden worden, die auf den berühmten Anführer weist.

Mboro von Berlin Postkolonial meint daher, man müsse die Suche nach Meli mittels DNA-Vergleich ausweiten: „Man sollte auch in Leipzig suchen und in weiteren Museen – er könnte überall sein“, sagte er der taz. Denn die Museen haben damals ihre menschlichen Gebeine vielfach weiterverkauft. Immerhin ist man Meli nun ein Stück näher gekommen. Von einem der untersuchten Schädel, der mit „Akida“ beschriftet war, weiß man nun, dass es sich um Sindato Kiutesha Kiwelu, einen Berater Melis, handelt.

Zablon Kiwelu (links) und Isaria Meli (rechts) stehen am Denkmal für die Hingerichteten in Old Moshi. Das Denkmal ist ein hoher Mamorstein und oben ist ein Kopf.

Die Nachfahren Zablon Kiwelu (links) und Isaria Meli am Denkmal für die Hingerichteten in Old Moshi Foto: Konradin Kunze

Wissensaustausch als Teil der Provinienzforschung

Die Initiative für den DNA-Vergleich ging ebenfalls nicht von der SPK, sondern von den Nachfahren aus, betonen die Organisationen. „Wir haben im vorigen Jahr in der Region Kilimandscharo eine Wanderausstellung mit dem Titel ‚Marejesho‘ gemacht, das bedeutet Rückkehr, Restitution“, erzählt Kunze. Darin hätten sie von den Forschungen in Deutschland zu menschlichen Überresten und geraubten Kulturgütern erzählt „und mit Nachfahren der Mangis gesprochen, um deren Erinnerungen zu hören – und ihre Forderungen“. Als die Menschen dort von der ersten DNA-Probe – von Isaria Meli – erfuhren, hätten sie auch ihre DNA abgeben wollen. „Wir sind also mit diesem Wunsch an die SPK herangetreten“, so Kunze.

Dass ein Vergleich von 10 DNA-Proben mit 8 ausgewählten Schädeln nun tatsächlich drei Treffer gegeben hat, sei mithin auch weniger ein „kleines Wunder“, wie Parzinger es darstellt, sondern das Ergebnis sorgfältiger Vorarbeit vor Ort. Vor allem der Treffer beim Schädel „Akida“ habe ihn – Kunze – kaum überrascht, weil sie ja gezielt die DNA von Menschen eingesammelt hätten, deren Vorfahre damals ein Akida von Manga Meli war und mit ihm hingerichtet wurde.

Die Ausstellung „Marejesho“ wird ab dem 12. Oktober 2023 im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität in Berlin gezeigt. Dabei werden die Reaktionen, Forderungen und Fragen der Communities im Fokus stehen. „Marejesho“ ist ein Projekt von Flinn Works, Berlin Postkolonial und Old Moshi Cultural Tourism, gefördert im Fonds TURN2 der Kulturstiftung des Bundes. Im Rahmen der Ausstellung wird es im November eine Veranstaltung mit Vertretern der Nachfahren geben.

Nun, wo sie informiert sind, fordern die Nachfahren die zügige Repatriierung der identifizierten Schädel auf Kosten der Bundesregierung. Auch die nicht identifizierten Ahnen, die den Communities der Chagga oder Meru zugeordnet werden könnten, sollten zurückkehren, erklärten sie nach der Videokonferenz am Samstag. Sie forderten, in den Prozess der Repatriierung einbezogen zu werden und die Respektierung ihrer diesbezüglichen Wünsche. „Unsere Familien sind bereit, sie zu empfangen, und wir haben bereits Orte für ihr Begräbnis gefunden“, erklärten die Familien laut Pressemitteilung von Flinn Works und Berlin Postkolonial.

Des Weiteren fordern sie eine offizielle Entschuldigung der Bundesrepublik für die kolonialen Verbrechen und die Verschleppung der Ahnen bei den betroffenen Familien und Communities. Das erwarte man auch von den beteiligten Museen und Universitäten. Außerdem sollen persönliche Gegenstände der Mangis, die sich in deutschen Museen befinden, zurückgegeben werden. Nach der Repatriierung solle es zudem Gespräche mit der Bundesregierung über Reparationen geben, so die Nachfahren.

Auf Anfrage der taz, was man zu den Forderungen sage, teilte die SPK am Montag mit, dies nicht bis Redaktionsschluss beantworten zu können. Die Berliner Ethnologin Isabelle Reimann, die 2022 die Marejesho-Ausstellungstour begleitet hat, unterstützt die Forderungen. Der taz sagte sie: „Dass Schädel dieser angesehenen Persönlichkeiten tatsächlich nach Berlin geschickt und als namenlose Ressourcen für die Rassenforschung missbraucht wurden, erfüllt mich mit Ekel.“ Eine Entschuldigung der Bundesregierung und der Di­rek­to­r*in­nen der Institute bei den Familien und Communities sei „eine Sache des Anstands und eine Notwendigkeit für jede weitere Zusammenarbeit“.

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