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AntigewaltprojektVorbild Neukölln

Der Senat will in Neukölln erprobte Maßnahmen gegen Jugendgewalt auf alle Bezirke ausweiten. Sie richten sich an auffällige, gewalttätige Jugendliche.

Polizeieinsatz nach Rangeleien im Neuköllner Columbiabad Foto: Caroline Bock / dpa

BERLIN taz | Wenn ein 13-Jähriger mehrmals mit Gewalttaten auffällt, dann stimmt möglicherweise etwas nicht in seinem „System“ – ob Schule, Familie oder Freundeskreis. Diese Überzeugung liegt der Arbeit des Neuköllner Teams „Jugend-Deliquenz“ zugrunde. In dem Team betreuen vier So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen „strafrechtlich signifikant gefährdete“ junge Menschen im Alter von 10 bis 17 Jahren, und das Projekt soll nun als Konsequenz aus dem Gipfel gegen Jugendgewalt vom Januar auf ganz Berlin ausgeweitet werden. Zu dem hatte die damalige Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) im Januar nach Ausschreitungen in der Silvesternacht eingeladen.

Das Besondere in Neukölln: Die So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen arbeiten eng mit Staatsanwaltschaft, Polizei, Schulen, dem Jugendamt, psychologischen Fachdiensten und nicht zuletzt den Familien zusammen. Sie sind direkt beim Jugendamt angestellt, die Jugendlichen haben durch sie ei­ne*n fes­te*n Ansprechpartner*in. Dadurch können die So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen schnell reagieren: „Wir erfahren es direkt von der Polizei, wenn etwas vorgefallen ist. Die Be­treue­r*in­nen konfrontieren die Jugendlichen unmittelbar danach“, sagt Martina Kirstan, Leiterin der Jugendgerichtshilfe Neukölln, bei einer Vorstellung des Projekts am Dienstag.

„Dann kann der Jugendliche sich nicht wegducken“, sagt Kirstan. „Das hat Vorteile: Wenn wir einen jungen Menschen sechs Wochen später fragen, warum er in dieser einen Nacht mit einem Kuhfuß im Wedding von der Polizei aufgegriffen wurde, dann erinnert er sich entweder nicht mehr richtig, oder er hat sich schon eine Geschichte zurechtgelegt.“

„Wir gehen davon aus, dass Jugendliche mit Gewaltverhalten Defizite zeigen“, sagt Neuköllns Jugendamtsleiterin Katrin Dettmer. Das könnten etwa große Belastungen oder Konflikte zu Hause sein, mangelnde Orientierung oder wenig Wertschätzung, sagt sie. Außerdem litten die Jugendlichen selbst unter ihrem Verhalten. „Sie haben ein schlechtes Gewissen und schämen sich meist, wenn sie gewalttätig geworden sind. Daraus entsteht oft wieder Wut“, erklärt Dettmer. „Sie wollen ja gar nicht überall rausfliegen.“ In der Betreuung würden die Jugendlichen merken, dass sie selbst Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen müssen – und können.

Sinnvolles Freizeitverhalten

„Wir sprechen mit den Jugendlichen auch über problematisches und über sinnvolles Freizeitverhalten. Übrigens auch darüber, wie sie Silvester feiern wollen“, sagt Dettmer. Dazu gehöre, herauszufinden, wie die Jugendlichen gern ihre Freizeit verbringen würden, und sie anzuregen, „besser nicht in den Arkaden herumzuwabern, sondern sich eine Sportart oder eine andere Beschäftigung zu suchen“.

Das Projekt ist 2016 als AG „Kinder- und Jugendkriminalität“ gestartet, von den vier So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen sind drei An­ti­ge­walt­trai­ne­r*in­nen und ein*e Suchtberater*in. Neuköllns damaliger Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU) hatte es nach einem Vorbild aus Essen initiiert. Mehr als 100 Jugendliche haben das Programm seitdem durchlaufen. Erfolgreich, wie die Leiterinnen des Jugendamts und der Jugendgerichtshilfe betonen. Ziel ist, dass die Jugendlichen – in der übergroßen Mehrheit männlich – im Zeitraum eines Jahres keine Straftaten mehr begehen, eine schulische oder berufliche Perspektive entwickeln und ihr Freizeitverhalten reflektieren.

Die Senatsverwaltung für Bildung, Familie und Jugend will das Projekt nun auf ganz Berlin ausweiten. In allen Bezirken sollen die Jugendämter eine bis vier Sozi­al­ar­bei­te­r*in­nen dafür einstellen. Es ist eine der Maßnahmen, die die Senatsjugendverwaltung mit den im Februar beschlossenen Mitteln aus dem Jugendgewaltgipfel verstärken will. 2,6 Millionen Euro stehen dafür in diesem Jahr bereit, jeweils weitere 2,6 Millionen sind für die kommenden beiden Jahre im Haushalt eingestellt. Für die Jugendverwaltung ist das wichtige Präventionsarbeit. „Wir wollen die Bewährungshilfe arbeitslos machen“, scherzt Liecke, nun Staatssekretär für Jugend und Familie, am Dienstag.

Noch im Juli hatten Ak­te­ur*in­nen beklagt, dass von den beim Jugendgipfel angekündigten 20 Millionen für 2023 noch kein Geld geflossen sei. Dass die Verwaltung nun im August ankündigt, das Neuköllner Projekt auszuweiten, begründet Liecke auch mit dem Haushalt, der nun erst im Abgeordnetenhaus diskutiert wird. Er räumt außerdem ein, das es dauern könnte, genug geeignete So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen zu finden. Doch langsam sei das nicht: „Je mehr dieser Jugendlichen wir erreichen, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir an Silvester zukünftig andere Bilder sehen.“

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