Buch „Transit Istanbul-Palästina“: Retter, Schwindler und Verfolgte

Reiner Möckelmanns Studie über Istanbul als Transitpunkt für Juden im Zweiten Weltkrieg ist eindrucksvoll. Sie entlarvt Lügen und Halbwahrheiten.

Ein Mann wirft eine weiße Blume in einen Fluß

Gedenken an die 790 jüdischen Flüchtlinge, die auf der „Struma“ starben Foto: Deniz Toprak/epa/­picture ­alliance

Nach dem Krieg haben sie sich alle gebrüstet: der deutsche Botschafter in Ankara, Franz von Papen, phantasierte, er habe mehr als 10.000 Jüdinnen und Juden gerettet. Der Vatikan verwies gar auf 25.000 Menschen, die dank seiner Hilfe dem Holocaust entgangen seien. Und staatliche Stellen in der Türkei behaupten bis heute, das Land sei eine „Retter-Nation“ für die vom Tod Bedrohten gewesen.

Von diesen Mythen bleibt nach der Lektüre von Reiner Möckelmanns Studie über Istanbul als Transitpunkt in Richtung Palästina für südosteuropäische Juden im Zweiten Weltkrieg nichts übrig. Sauber wie mit einem Skalpell geschnitten zerstört der Autor mithilfe von vielen bisher unbeachteten Quellen die Vorstellungen von der großartigen Hilfe.

So habe die Türkei auf die Drohung der Nazis hin, dass ihre in Frankreich lebenden Staatsbürger nach Polen deportiert würden, wenn man sie nicht in ihre Heimat zurückbrächte, erst verspätet reagiert und dann nur einem Bruchteil die Möglichkeit gegeben, sich in Sicherheit zu begeben. Die anderen endeten in deutschen Vernichtungslagern. Der Beitrag zur Hilfe durch die katholische Kirche sei maßlos zugunsten von Papst Johannes XXIII. aufgepumpt worden. Und die Heldenerzählungen Papens entpuppten sich als „erlogene Wahrheit“ eines notorischen Schwindlers.

Reiner Möckelmann: „Transit Istanbul–­Palästina. Juden auf

der Flucht aus Südosteuropa“. Wbg Theiss, Darmstadt 2023, 368 Seiten, 36 Euro

Im Mittelpunkt von Möckelmanns Studie stehen freilich diejenigen, die tatsächlich alles in ihrer Macht Stehende in Bewegung setzten, um den Verfolgten zu helfen.

Wirkliche Helfer

Das war an erster Stelle eine in Istanbul stationierte Gruppe der Jerusalemer Jewish Agency mit Chaim Barlas an der Spitze und zudem türkischer Juden. Die kleine Organisation unternahm alles Erdenkliche: Sie entsandte Emissäre nach Südosteuropa, setze Regierungsstellen in der Türkei unter Druck, hielt den Kontakt mit jüdischen Organisationen in Budapest und Bratislava und antichambrierte bei britischen und US-Botschaftsangehörigen in Ankara.

Am Ende waren es viel weniger Menschen, die gerettet werden konnten, als die großsprecherischen Behauptungen anderer weismachen wollen. Aber ihnen wurde zuerst und vor allem von Barlas und seinen engagierten Helfern aus der Not geholfen.

Istanbul, das war im Zweiten Weltkrieg ein Zentrum von Spionage und Gegenspionage. Die Türkei widerstand den Versuchen der Alliierten, sie zu einem Kriegseintritt gegen Hitler zu bewegen, und bemühte sich stattdessen um gute Beziehungen – und Geschäfte – zu allen Beteiligten.

Infolge der Neutralität Ankaras konnten mehrere Austauschaktionen zwischen dem Deutschen Reich und dem Vereinigten Königreich über die Drehscheibe Istanbul abgewickelt werden. Dabei wechselte man in Nazi-Europa gestrandete Juden sowie Angehörige des Commonwealth gegen in Palästina verbliebene deutsche Staatsbürger aus. Die Züge mit den Austauschkandidaten kamen aus dem Deutschen Reich und dem syrischen Aleppo – am Bosporus stiegen die Passagiere um. Die einen entkamen so dem Holocaust, die anderen durften „heim ins Reich“.

Die Mandatsmacht sträubte sich

Freilich waren bei diesen Austausch­aktionen nur solche Jüdinnen und Juden zugelassen, die eine nahe Verbindung ins britische Mandatsgebiet nachweisen konnten, etwa weil sie als Touristen aus Tel Aviv bei Verwandtenbesuchen in Polen 1939 gestrandet waren. Dadurch blieben Millionen andere Verfolgte von den Transporten ausgeschlossen.

Die Mandatsmacht in Jerusalem sträubte sich lange dagegen, diesen Juden einen Zutritt nach Palästina zu erlauben. Dementsprechend sah sich die Türkei nicht in der Lage, diesen Menschen Trasitvisa auszustellen. In der Türkei sollten die Menschen keinesfalls verbleiben, so die Position Ankaras.

Doch gerade für die bedrohten Juden in der Slowakei, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und Rumänien lag es nahe, diese über Istanbul in Sicherheit zu bringen. Barlas und sein Büro der Jewish Agency verhandelten mit allen nur denkbaren Entscheidungsträgern, um das zu ermöglichen.

Kurz vor Kriegsende, als die ungarischen Juden von den Nationalsozialisten nach Auschwitz getrieben wurden, kam es gar zu indirekten Kontakten zu SS-Angehörigen. Erfolg hatten die Initiativen nur in den seltensten Fällen: Mal fehlten Transportkapazitäten, mal gab es keine sichere Schiffsroute, mal entpuppten sich großspurig angekündigte Hilfsangebote als Schwindel. Zudem unternahm Deutschland alles Erdenkliche, um die Transporte zu verhindern.

Das „Struma“-Desaster

Dass die Türkei nicht gerade als Held in dieser dunklen Geschichte erscheint, zeigt am eindrücklichsten das Desaster der „Struma“. Dieses mit Menschen überladene und nahezu manövrierunfähige Schiff hatte aus Rumänien kommend Ende Dezember 1941 den Bosporus erreicht. Aber hier ging es nicht weiter. Türkische Regierungsstellen verweigerten Transitvisa für den Eisenbahntransport in Richtung Syrien, die britische Mandatsverwaltung wiederum wollte die Flüchtlinge nicht in Palästina annehmen.

Wochenlang blieben die Passagiere der „Struma“ auf dem Dampfer gefangen. Am 23. Februar 1942 schließlich wurde das Schiff an die Grenze der türkischen Hoheitsgewässer geschleppt. Einen Tag später torpedierte ein sowjetische U-Boot irrtümlich die „Struma“. Von 791 Menschen überlebte nur ein einziger.

Möckelmann ist eine eindrucksvolle Studie über ein wenig bekanntes Kapitel des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust gelungen. Sein akribisch recherchiertes Buch zeigt auf, an welchen Fallstricken die Rettung von Jüdinnen und Juden scheiterte – und dass es damals doch Menschen gab, die alles dafür gaben, um die Verfolgten zu retten.

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