: Plädoyer für das Unbotmäßige
Sommerkonzerte der anderen Art: Experimentelles und Improvisatorisches in der Natur, Jazz am Kaisersteg sowie in Radebeul und ein Klangteppich der iranischen Diaspora
Von Robert Mießner
Festivals, zumal solche im Sommer, haben ihre eigenen Rituale, die Segen und Fluch der Veranstaltung sein können: Anreise und Ankommen, Warten und Rumlaufen gehören unbedingt dazu. Bei den 4. Klanglandschaften. Festival für Neue Musik und Natur im nordbrandenburgischen Mühlenbeck verhält sich das ähnlich und doch anders als gehabt. Das Festival trägt in diesem Jahr den Untertitel Parlament der Natur, der Anklang an Ben Wargins „Parlament der Bäume“ kommt sicher nicht von ungefähr.
Bei den seit 2019 stattfindenden Klanglandschaften wird die Flur zur Bühne wie zum Akteur, das schließt im O-Ton des Festivals mit ein: „Waldlichtungen, Seeufer, renaturierte Rieselfelder, ein naturgeschütztes Tal mit ihren zwitschernden, pfeifenden, summenden und surrenden, fliegenden oder krabbelnden Bewohnern.“
Was sich etwas esoterisch liest, hat einen ernsten klimatischen Hintergrund. Wer im Sommer Zeit auf dem Land verbringt, kann seit Jahren davon ein Lied singen. Die Musik des Festivals ist adäquat improvisatorisch und experimentell. Zum Auftaktabend am 2. Juni gehört die Tanz-Klang-Landschaft „unerneuerbar | irrinnovabile“. Die Uraufführung der Film-Musik- Performance bestreitet ein berlinisch-sizilianisches Ensemble: Willehad Grafenhorst (E-Bass, Elektronik, Video), Gandolfo Pangano (Gitarre, Elektronik), Michael Vorfeld (Perkussion, Saiteninstrumente). Und Fine Kwiatkowski (Tanz, Video).
Die Künstlerin hat in den Achtzigerjahren in der DDR mit den Improvisationsmusikern Dietmar Diesner, Christoph Winkel und Lothar Fiedler gearbeitet und ist seit 1990 in Frankreich, Österreich, den USA, Dänemark, Belgien, Spanien, Schweiz, Kanada, Mexiko, und Südafrika aufgetreten. Der Saxofonist Urs Leimgruber schreibt: „Fine Kwiatkowski offenbart mit ihrer außergewöhnlichen und hoch differenzierten Körpersprache, dass die Grenzen dessen, was durch Bewegung sagbar ist, noch immer nicht festgeschrieben sind.“
Leimgruber und Kwiatkowski sind nach der Jahrtausendwende im Jazzkeller Treptow aufgetreten, einem der Orte des Jazz in und aus der DDR. Aus ihm ist mit Jazz am Kaisersteg eine jährliche Veranstaltungsreihe erwachsen, die seit über zwei Jahrzehnten im Sommer und bei freiem Eintritt bekannte und junge Musikerformationen präsentiert. Jazz ist dabei eher ideelle Klammer als starres Korsett.
Bei der diesjährigen Festivalausgabe gibt es einen Geburtstag zu feiern: Am 1. Juli treten Matthias Bauer (Bass) und Günter „Baby“ Sommer mit dem Jubilar Conny Bauer (Posaune) auf, der am 4. Juli seinen Achtzigsten begehen kann. Conny Bauer und Sommer haben als Mitglieder von Synopsis einen der entscheidenden Anstöße zum Free Jazz in der DDR gegeben. Bauer kam von Rock und Soul, später hat er mit Punk- und Noisemusikern kooperiert und hypnotische Soloperformances erarbeitet.
Am 15. Juli tritt am Kaisersteg das junge Stefan Schultze Large Ensemble mit seiner „Buchla Suite“ auf. Schultzes Komposition ist ein Brückenschlag zwischen Jazz und experimenteller Elektronik; sie bezieht sich auf einen der Meilensteine der Synthesizermusik: „Silver Apples oft the Moon“ von Morton Subotnick aus dem Jahr 1967. „A Handcrafted Tribute“ nennt Schultze sein Stück. In ihm erkundet er, wie der Sound des Buchla-Synthesizers, für den Subotnick komponierte, in den eines großen Ensembles transponiert werden kann: Gesang, Saxofone, Trompete, Horn, Marimba, Vibrafon, E-Gitarre, Akustikbass, Drums, Lautsprecher und Klavier.
Klanglandschaften. Parlament der Natur: 2. bis 4. Juni, Brieselang, Infos & Programm: www.klanglandschaften.eu
Klangteppich. Festival der iranischen Diaspora: 8. bis 9. Juni, Berlin, Infos & Programm: www.klangteppich.berlin/en/klangteppich-v
Jazz Edition Radebeul:9. bis 11. Juni, Infos & Programm: dynamitekonzerte.com/event/jazz-edition-radebeul-2023
Jazz am Kaisersteg: 17. Juni bis 23. September, Berlin, Infos & Programm: www.jazzkeller69.de
Die Frage, was „das Geheimnis des Jazz“ ist, hat 1965 in der DDR der Dichter Volker Braun mit einem deutlichen Plädoyer für das Unbotmäßige beantwortet: „Der Bass bricht dem erstarrten Orchester aus. / Das Schlagzeug zertrommelt die geistlosen Lieder. / Das Klavier seziert den Kadaver Gehorsam. / Das Saxophon zersprengt die Fessel Partitur: / Bebt, Gelenke: wir spielen ein neues Thema aus.“ Wer weiß, vielleicht gibt es das zu hören, wenn Braun bereits am 11. Juni mit dem Pianisten Simon Lucaciu und Günther „Baby“ Sommer im Rahmen der Jazz Edition Radebeul auftritt.
Die sächsische Kreisstadt ist Wohnort Sommers, der am 25. August seinen 80. Geburtstag feiern kann. Zu Sommers prägnanten Einspielungen zählt das mit Irène Schweizer (Piano), Maggie Nicols (Gesang), George Lewis (Posaune) und Joëlle Léandre (Gesang) 1986–88 eingespielte Album „The Storming Of The Winter Palace“. Auch der Titel kommt nicht von ungefähr. Volker Braun hingegen war es, der 2011 in seiner Erzählung „Die hellen Haufen“ Anfang der Neunziger einen thüringischen Arbeiteraufstand gen Berlin ziehen ließ. Die Revolte war imaginär, ihr Hintergrund real. Ein Spiegel-Bestseller ist nicht daraus geworden.
Von „Aufruhr, Widerstand und Poetik aus der Asche“ spricht Klangteppich, das Berliner Festival der iranischen Diaspora, in seiner Ankündigung zum Programmpunkt Metal Theatre: Aftermath. Als ursächlich blasphemische, dabei potentiell spirituelle Musik ist Heavy Metal nicht verkehrt, wenn es gegen institutionalisierte Religion bis hin zum Gottesstaat geht. Metal Theatre spielen die Musik von Nikan Khosravi (Gitarre, Gesang), Frontmann der Band Confess und seit 2018 im Exil. In Berlin agiert er mit: Milan Zendenahm (Gitarre), Feline Lang (Gesang, Synthesizer, Performance), Isabel Merten (Bass, Gesang), Brendan Dougherty (Schlagzeug) und Carsta Köhler (Kostüme).
Klangteppich veranstaltet in diesem Jahr seine fünfte Ausgabe. Metal war bis jetzt nicht unbedingt sein Schwerpunkt, der Fokus des Festivals liegt auf Folk, Klangkunst und zeitgenössischer Musik. Aber zu einem Begriff von Freiheit, der diesen Namen verdient, gehört auch, dass stilistische Grenzen porös gehalten werden. Ein schönes Beispiel für die Anverwandlung von Tradition ist das Ensemble Ilyad: Pardis Zaghampour (Gesang), Yaser Bayat (Kamancheh), Borys Slowikowski (Percussion) und Fidan Aghayeva-Edler (Klavier).
Das Quartett spielt Lieder der Luren, einer ethnischen Minderheit im Südwesten Irans. „Ilyad ist eine Zusammensetzung aus Il – Stamm der durch Zagros zieht, und Yad – die Erinnerung daran“, heißt es auf der Website von Klangteppich. Exotisierung und Verklärung sind ausdrücklich nicht die Sache des Festivals. Ende Juni erscheint der Klangteppich-Podcast über Lehren aus der antisemitischen Propaganda der Nationalsozialisten und ihrer Verbindung zu Iran.
Und, bereits zum Start erscheint in Kooperation mit der Plattform Norient das Klangteppich-Magazin, das auch gerne noch danach gelesen werden kann. Zu den Festival-Ritualen gehört schließlich auch die Erinnerung. Rückschau ist schön, Reflexion bleibt angesagt.
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