Missbrauch in der Tantra-Szene: Kommunen ohne Grenzen
Unsere Autorin recherchierte zu Sexsekten und bewegte sich auch privat in der Tantra-Szene. Heute weiß sie um die Schattenseiten vieler Gruppen.
A n einem schwülen Sommerabend stehe ich auf dem Balkon des Gemeindezentrums von Byron Bay und strecke meine Arme in den tropischen Regen. Es ist Februar 2012, ich bin auf dem „Taste of Love“-Festival in Australien. Im Raum hinter mir tanzen Frauen und Männer jeden Alters in Pluderhosen, Bikini-Tops und Seidenkaftans.
Nach einer Stunde ekstatischen Tanzes – eine rauschhafte Erfahrung, ohne jegliche Stimulanzien – bin ich euphorisch und verschwitzt. Ich muss mich abkühlen. Aber nicht nur mein Puls rast. Mein Inneres vibriert. „So will ich mich immer fühlen“, denke ich, während die Blickkontakte mit anderen Tanzenden in mir nachwirken. Es ist ein Erweckungsmoment. Etwas in mir ist aufgebrochen.
Das jährliche Festival ist die größte Versammlung von Tantra-Lehrer:innen und schamanisch-sexuellen Heiler:innen in Australien, auch heute noch. Wofür diese Begriffe stehen, wusste ich damals nicht. Es war so gar nicht meine Szene. Ich hielt sie stets für die verkappte Swingerecke der Esoteriker.
Ich arbeitete damals als Auslandskorrespondentin in Neuseeland und ein Magazin war an einem ironischen Bericht darüber interessiert. Doch an jenem heißen Tag legte sich ein Schalter um, der mich auf eine zehn Jahre währende, zutiefst persönliche Entdeckungstour schickte. Gleichzeitig begann meine Recherche in Gruppen, in denen manipuliert und Macht missbraucht wurde und es zu sexualisierter Gewalt kam.
Hunderte von Frauen und Männern reisen 2012 zu jenem Festival an. Tagsüber nehmen sie an Vorträgen teil und nachts feiern sie – ohne Alkohol oder Drogen. Die Vorträge auf der Bühne mit lila Samtsofa und plüschigem Boudoir-Dekor drehen sich um Ganzkörperorgasmen und körperliche Ekstase.
„Nektar der Götter“
Noch vor der Mittagspause lerne ich, dass weibliches Ejakulat in dieser Welt der „Nektar der Götter“ ist und der Anus ein heiliges Portal. Am Abend gehe ich im sexy Kostüm zum Lovers Ball, wo wir uns beim Eröffnungsreigen gegenseitig minutenlang tief in die Augen schauen. Am nächsten Morgen ist meine Skepsis verflogen. Ich bin angefixt von dem, was die strahlenden Menschen auf dem Festival als „Lebensenergie“ bezeichnen.
Es folgen zwei weitere Tage, an denen ich tanze, lache, massiere, laut im Kreis mit „Ommm“ ausatme und spüre, was Menschen erleben, die von einer Gruppe, einer Ideologie oder einer charismatischen Persönlichkeit so angetan sind, dass sie ihr Leben ändern wollen. Es ist das Gefühl, auf etwas Großes, etwas Elementares, etwas geheimnisvoll Neues gestoßen zu sein.
Ganz ohne Rekrutierung gibt mir das „Taste of Love“ den ersten Geschmack bewusster Sexualität. Sie spricht etwas in mir als Feministin mittleren Alters an, das lange brach lag – eine andere Form von Weiblichkeit, die ich bisher abgelehnt oder belächelt hatte. Ich fühle mich plötzlich kraftvoll, jünger, sinnlicher.
Die Veranstalter:innen des Festivals gehören zur International School of Temple Arts, kurz ISTA, einer weltweiten Organisation. Die Bewegung dahinter, die mich plötzlich so fasziniert, bezeichnet sich selbst als „Tribe“, Stamm. Mit dem Begriff „Sekte“ verbinde ich zu diesem Zeitpunkt vor allem gefährliche Psychokulte wie Scientology, eine moderne Seelenfängerkirche. So kommt es, dass mein landläufiges Schreckensbild von Sekten den Blick darauf verstellt, dass sie sich besonders anfangs sehr gut anfühlen können.
Beim „Taste of Love“-Festival komme ich indirekt auch mit einem sehr viel radikaleren Tribe in Berührung als dem der sanften Suchenden, von denen ich in Byron Bay umgeben bin. Und damit beginnt mein nicht geplanter Eintritt in den Sektenjournalismus.
Die Recherchereise
Es ist der letzte Tag des Festivals. Im Hof des Gemeindebaus treffe ich auf Angie Meiklejohn, eine lockige Frau aus Wellington, Neuseeland, 45 Jahre alt, in engem weißem Kleid. Wir trinken eisgekühlten Chai in der Mittagssonne und kommen ins Gespräch. Unvermittelt verrät sie mir: „Ich war in einer Art Sexkult“.
Angie hatte 30 Jahre zuvor als Teenager in Centrepoint gelebt, einer Landkommune nördlich von Auckland in Neuseeland. Diese war bis zu ihrer Schließung im Jahr 2000 Neuseelands größte alternative Gemeinschaft. Ein ehemaliger Kammerjäger namens Bert Potter hatte sie 1977 gegründet. Sein Handwerk als Verführer hatte er zuvor in Bhagwans Ashram in Indien gelernt. Er war es, der sogenannte „Encounter-Gruppen“ und Gestalttherapie von der damaligen Avantgarde aus Kalifornien nach Neuseeland brachte.
Potters Workshops hatten zum Ziel, sexuelle Blockaden bei Frauen zu lösen und alle zwischenmenschlichen Schranken zu überwinden. Das bedeutete nicht nur, dass die Toiletten keine Türen hatten, sondern auch, dass Teilnehmende zum Sex mit möglichst vielen anderen genötigt wurden. Auch in Österreich etablierte sich zu dieser Zeit eine solche Sekte: die Otto-Mühl-Kommune, mit ähnlicher Philosophie, und den gleichen verheerenden Konsequenzen.
Erst in den 90er Jahren, als Angie Mitte 20 war, wurde Centrepoint, wo zeitweise bis zu 300 Menschen lebten, erstmals von der Polizei gestürmt. Bei zwei Razzien wurden ein Dutzend Mitglieder verhaftet, wegen der Herstellung von Ecstacy und LSD, die in Gruppenexperimenten mit Teenagern genommen wurden. Und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern.
Bert Potter, der sich von seinen Anhängern „Gott“ nennen ließ, sowie weitere Männer und Frauen kamen ins Gefängnis. Bis zu seinem Tod beharrte Potter darauf, dass er nichts falsch gemacht habe, dass „intime Erfahrungen“ zwischen Kindern und Erwachsenen natürlich und befreiend seien.
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2010 brachte die Massey Universität in Auckland eine Studie heraus, die ein düsteres Bild der ehemaligen Kommune zeichnete: Ein Drittel der Centrepoint-Kinder war sexuell missbraucht worden, nicht nur von Potter. Die meisten Kinder hatten emotionale Vernachlässigung erlebt. Die Folgen: Suchtverhalten, Identitätskrisen, Suizidversuche und zerrüttete Familien.
All das ist mir nicht bekannt, als Angie und ich 2012 unseren Chai trinken. Auch wenn es die Kommune nicht mehr gibt, kann Angie ihr Schweigen erst langsam brechen. Sie sagt mir nur: „Ich war die Konkubine der Kommune“.
Angie und ich bleiben in Kontakt. Bert Potter stirbt noch im selben Jahr und Angie beginnt, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie begreift, dass sie in einer Therapiesitzung vom Guru unter Drogeneinfluss vergewaltigt wurde und als Überlebensstrategie in der Gemeinschaft promiskuitiv wurde. Dass sie sich deshalb danach prostituiert hat und alkoholabhängig wurde. Der Schatten von Neuseelands Sexsekte hängt über Angies Leben und dem vieler anderer Ex-Kommunen-Mitglieder, eine große unverheilte Wunde, ohne jede Vergangenheitsbewältigung.
Die ehemalige Psychosekte, die einem utopischen Ideal freier Liebe folgen sollte, aber zum kollektiven Alptraum wurde, lässt nun auch mich nicht mehr los. In den darauffolgenden Jahren wird sie meine Obsession. Ich bekomme einen Buchvertrag und beginne, nach weiteren früheren Centrepoint-Mitgliedern zu suchen. Es sind die persönlichen Schicksale und desaströsen Spätfolgen, die mich beschäftigen.
Mein Interesse stammt auch daher, dass ich mich zu der Zeit selbst neu zu einer Bewegung hingezogen fühle, in der radikale Hau-Ruck- und Schrei-Therapie, Seelenwäsche, sexuelle Befreiung und offene Beziehungen zum Repertoire gehören. Und Kommunen haben mich immer fasziniert. Auch deshalb will ich die Pioniere, die einst für ihren Traum jeden Besitz aufgaben, nicht grundsätzlich verdammen. Hätte ich nicht eine ebensolche Idealistin sein können?
„Centrepoint bestand aus durchschnittlichen, normalen Menschen“, sagte Angie einmal zu mir, „keine Monster oder Freaks.“ Statt die Parallele zu mir und meiner plötzlichen Faszination für die Neo-Tantra-Bewegung zu sehen, will ich wissen: Was ist in Centrepoint schiefgelaufen? Was dachten die vielen Frauen, die um einen Platz in Bert Potters Bett konkurrierten? Und die Eltern, die dem 60-Jährigen ihre Töchter zur Entjungferung überließen? Wie konnten Familien daran nicht zerbrechen?
Ich spreche mit Dutzenden von Überlebenden und Geschädigten auf der einen, und Mitläufern, Vertuschern und verurteilten Sexualstraftätern auf der anderen Seite. Darunter auch eine Frau, die Teenager in Potters Arme getrieben hat und ins Gefängnis kam. Sie weint und will sich bei Angie entschuldigen. Doch das Interview zieht sie später zurück.
Anfang 2014 treffe ich Louise Winn. Ich hatte über sie nur gehört, dass sie das „Mädchen im Caravan“ gewesen sei, wegen der jemand schließlich die Polizei alarmierte – allerdings erst viel zu spät, nachdem sie jahrelang missbraucht worden war. Sie galt danach als verschollen. Es brauchte viele Anrufe bei abweisenden Familienmitgliedern, bevor ich ihre Nummer bekam. Ich machte mir keinerlei Hoffnung und es dauerte weitere Wochen, bis sie abnahm. Doch im Gegensatz zu anderen Überlebenden war sie nicht misstrauisch oder erschrocken. „Bist du sicher, dass du das machen willst?“, fragte sie mich mitfühlend am Telefon.
Als ich an ihre Tür in Auckland klopfe, tritt eine unscheinbare Frau mit praktischen Halbschuhen und Katzenhaaren auf dem Pulli heraus. Louise sagt, sie habe gerade ein Beruhigungsmittel genommen. Wir setzen uns draußen auf eine Bank. Die nächsten zwei Stunden sind verstörend.
Louise erzählt, dass sie mit zehn Jahren nach Centrepoint kam, ihre Mutter suchte dort therapeutische Hilfe. Ab dann war das Mädchen allein, ihre Eltern waren mit sich selbst und anderen beschäftigt. Sie wurde von ihnen getrennt und sah sie selten. Drei Monate nach der Ankunft wurde das schmächtige Mädchen in Bert Potters Bett gelockt. Meist war seine Frau dabei. Louise wusste nicht, dass das nicht normal ist. Später begann sie, sich mit Müll im Wohnwagen auf dem weitläufigen Centrepoint-Gelände zu verbarrikadieren, damit die Männer sie dort nachts in Ruhe ließen. Louise versteckte sich im Gebüsch, machte sich unsichtbar, wusch sich nicht mehr. „Ich habe alles versucht“, sagt sie.
Als Louise mit 14 endlich Centrepoint verließ, legte sie sich einen neuen Namen zu, um nicht mehr das schmutzige Kind zu sein, als das sie sich empfand. „Nicht die ideale Kindheit“, sagt sie mit rauer Stimme. „Anderen erzählte ich, ich hätte auf einer Farm gelebt.“
Ihre Vergangenheit hat sie stets für sich behalten, mit einer Ausnahme, als sie vor Gericht aussagte. Ich bin die erste, die ihre Geschichte persönlich erfährt. Über Stunden erzählt sie, ich höre zu. Jetzt ist sie 47, lebt allein, hat Angststörungen. Die hat sie, seit Bert Potter beschloss, dass ihr Jungfernhäutchen medizinisch entfernt werden sollte. Sie raucht, ich weine. Es ist ein Wendepunkt, für uns beide.
Der Kreuzzug
Nach diesem Treffen bin ich nicht mehr bloß auf Recherche, sondern auf einem Kreuzzug. Ich will, dass die Beschöniger kapieren, für was sie mitverantwortlich sind. Ich schlage Louise ein Treffen mit einer ehemaligen Centrepoint-Mutter vor, die die Kommune später als Aktivistin mit zu Fall brachte. Vielleicht kann sie helfen.
Einen Monat später sitzen wir zu dritt im Wohnzimmer von Barri Leslie. Die Stimmung ist erst herzlich, dann immer angespannter. Louise sitzt auf dem Sofa, ihr Körper gebeugt, ihr gegenüber Leslie, die viel redet und die Zeit damals aus ihrer Sicht erklärt. „Ich habe mich so furchtbar allein gefühlt“, presst Louise schließlich heraus, „Vier Jahre lang. Niemand kam mir zur Hilfe.“
Mit elf Jahren hätte Louise versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, sagt sie. Daraufhin habe Bert Potter sie gezwungen, eine Woche lang täglich zu ihm zu kommen, um mehr „Liebe“ zu erfahren. Als sie das knapp erwähnt und dabei Tränen der Wut unterdrückt, zuckt die ältere Frau zusammen. „Das wusste ich nicht“, murmelt sie. Es quält sie sichtbar, aber eine Entschuldigung kommt ihr nicht über die Lippen.
Am nächsten Tag rufe ich Louise an. „Ich will alle Erwachsenen von Centrepoint zusammen in einen Raum stecken“, sagt sie mit brüchiger Stimme und zieht an ihrer Zigarette. „Und ich will ihnen ins Gesicht schreien: ‚Wie konntet ihr nur?‘ Und sie es fühlen lassen.“ Ich zittere. Ich habe meine professionelle Distanz verloren.
Die Jahre, in denen ich mich tiefer und tiefer in das Geflecht aus Verdrängung, Widersprüchen und Horrorerlebnissen verstricke, hinterlassen Spuren bei mir. Ich verliere mich in einer Parallelwelt, die nur die Centrepoint-Opfer verstehen, und ich spüre eine wachsende Überforderung.
Alle Geschichten und Gerichtsfälle scheinen miteinander verwoben, ein undurchdringbares Dickicht. Immer wieder ecke ich mit meinen Recherchen an: Ein prominentes Opfer, das bereits im Fernsehen war, will plötzlich anonym bleiben und beauftragt einen Anwalt, der gegen meinen Verlag vorgeht. Auch andere drohen. Immer öfter fühle ich mich überwältigt, verstört und allein. 2014 gebe ich auf. Mein Buchprojekt ist vorerst gescheitert.
Die Selbsterfahrung
2012 beginnt auch eine weitere Reise, die länger andauert als jene abgebrochene Recherche. Nachdem ich auf dem „Taste of Love“- Festival Ekstase erlebte, will ich mehr davon. Bewusstseinserweiterung und authentische Verbindungen – all das spricht mich plötzlich an.
In den nächsten Jahren begebe ich mich auf Selbsterfahrung rund um die Welt. Ich besuche vor allem Kurse von ISTA, jener Organisation, die auch das Festival dominiert hatte. Beruflich stößt mich ab, was ich über die Folgen vermeintlicher sexueller Befreiung in der einstigen Centrepoint-Kommune erfahre, privat finde ich in der neuen Szene jedoch Bereicherung.
ISTA, 2007 in Arizona entstanden, dehnte sich über Australien und Europa zu einer weltweiten Organisation aus. Seitdem haben rund 13.000 Menschen in 48 Ländern einwöchige Trainings durchlaufen, die bis zu 2.000 Euro kosten. Ein lukratives Geschäft. Die Struktur der Organisation, die sich selbst als „Organismus“ bezeichnet, ist fluide, der Umgang herzlich.
Der erste ISTA-Kurs, den ich 2013 in Australien nach dem Festival besuche, ist eher entladend als erotisch. Wir trommeln auf Kissen ein oder brüllen in die Hand, um aufgestaute Gefühle loszuwerden. In Psychodrama-Rollenspielen geben wir uns gegenseitig, was wir von unseren Eltern nicht bekommen haben. Ich bemale meinen Körper mit rotbrauner Farbe, die wie Blut aussieht, und robbe mit verbundenen Augen auf dem Bauch durch den Regenwald – ein wildes, animalisches Spiel. Jeden Morgen sitzen wir in “sharing circles“ zusammen, um unsere Ängste, Verletzungen und Sehnsüchte auszudrücken.
Mein neues Ich fühlt sich nach dem seelischen Extremsport fantastisch an. Ich bin süchtig nach der Intensität der Begegnungen, der Flucht aus dem Alltag, und hole mehr und mehr Freunde dazu. Die Führungsfiguren um mich herum finde ich inspirierend. Noch. Bei den anstrengenden Rund-um-die-Uhr-Trainings über mehrere Tage schlafe ich im Mehrbettzimmer, ohne Verschnaufpause, werde mitgerissen von Ritualen, vom Tanzen, von Gefühlsausbrüchen. Mein Gehirn entlädt einen Cocktail aus Dopamin, Serotonin, Oxytocin und Endorphinen, ohne Unterlass. Die amerikanische Sektenforscherin Margaret Singer hat die Psychowirkung und manipulative Beeinflussung in solchen Large Group Awareness Trainings (LGATs), Großgruppen-Bewusstsein-Trainings, bereits in den Neunzigern erforscht und davor gewarnt. Zu dem Zeitpunkt aber kenne ich ihre Texte noch nicht.
Irgendwann biete ich mich als Workshop-Assistentin an. Meine Aufgabe ist es, Kleingruppen zu leiten, in denen man sich aussprechen kann. Ich biete Hilfestellung für jene, die sich mit dem Programm schwertun. Einmal verlässt eine Teilnehmerin während eines schamanischen Abendrituals, bei dem die meisten nackt sind, den Raum. Es ist ihr zu viel. Ich laufe ihr hinterher und versuche, sie zur Rückkehr zu überreden. Dass das übergriffig sein könnte, ist mir nicht bewusst. Ich bin ein Rad im ISTA-Getriebe, mit besten Intentionen, die Gruppe zusammenzuhalten.
Manchmal beobachte ich, wie sich Kursleiter arrogant und anmachend verhalten. Der US-amerikanische Gründer Robert Nichols, Baba Dez genannt, hat eine Art Harem aus jüngeren Geliebten um sich geschart. Er sieht wie ein ewiger Surfer aus – gebräunter Körper, lange Haare, charmant – und brüstet sich damit, mit 2.000 Frauen geschlafen zu haben. Andere eifern ihm nach. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es zu Sex zwischen Kursleitern und der Kundschaft kommt – im Gegensatz zu vielen Tantra- und Bodywork-Schulen bei ISTA kein Tabu. Die interne Richtline besagt, dass körperliche Intimität jedoch nur von den Teilnehmenden initiiert werden kann. Wie problematisch das angesichts des Machtgefälles, der Heilungsversprechen und des charismatischen Sogs dieser Männer ist, verdränge ich. Fünf Jahre vor MeToo habe ich blinde Flecken. Und der Drang, weiter dabei zu sein, ist zu groß. Da mir selbst bisher nichts Böses widerfahren ist, ignoriere ich die Schattenseiten und will mehr vom Guten. Denn für meine Beziehung ist vieles, was ich an Neuem lerne, positiv. Auch mein Mann kommt mit auf die Abenteuerreise.
In den sozialen Medien bemerke ich jedoch, wie Kritik an ISTA als Hexenjagd bezeichnet oder „Klatsch“ abgetan wird. Wer offen Vorwürfe gegen Baba Dez und andere äußert, bekommt zu hören, es sei eine „Projektion“. Diese Form von Manipulation, auch als „Victim blaming“, Opfer-Bezichtigung, bekannt, steht für mich mehr und mehr im Widerspruch zu all dem Reden über Liebe und Wahrheit.
Die Wende
Nach der MeToo-Welle vergeht ein weiteres Jahr, bis sich mein Blick auf ISTA schlagartig verändert. Es ist 2018, als in Thailand eine international bekannte Yoga- und Tantra-Schule namens Agama von einem Missbrauchsskandal erschüttert wird. 31 Frauen haben Übergriffe gemeldet – inklusive Vergewaltigungsvorwürfen gegen den rumänischen Leiter der Schule und andere Lehrer. Als ich davon erfahre, findet meine Sektenrecherchepause ein jähes Ende.
Ich fliege nach Thailand auf die Insel Koh Phangan, besuche Agama und finde weitere Opfer. Der Guru ist indes vorerst von der Insel geflohen. Die Recherche öffnet mir die Augen über den Druck, der Frauen und Männer in Praktiken trieb, die sie später bereuten, oder wegen denen sie bis heute in psychia-trischer Behandlung sind. Von der „Meditation“, die der Guru privat bei sich anbot, die aber erzwungenen Sex mit ihm bedeutete. Eine Frau soll nach verordnetem Gruppensex eine Psychose erlitten haben. Eine andere sollte die Sklavin des Gurus werden, sich ihm ausliefern, um dadurch zu „heilen“.
Mit einem Mal sehe ich Parallelen zu Centrepoint – aber auch zu dem Umfeld, in dem ich mich selbst die letzten Jahre über bewegt habe. Genau wie bei Centrepoint war auch Agama voller netter, kluger, offener Menschen: spirituell Suchende, die „fernöstliches Wissen“ vertiefen oder eine Yogaausbildung machen wollten. Agama nannte sich Yoga-Universität, die Studierenden kamen von überall her. Ich erfahre, dass es auch bei Agama wie damals bei Centrepoint Versuche gab, die Schule von innen zu verändern – von denen, die sich am patriarchalischen System und der misogynen Machokultur stießen. Sie liefen auf. Manche Agamis waren geblieben, bis es zu spät war, zu gehen – tief verstrickt in ein System, das über Jahre ihr Leben bestimmt hat. Oder sie blieben so lange, bis sie nicht länger weggucken konnten. Nun ist die gesamte Community in Aufruhr. Auch in anderen Ländern fallen Sexualstraftäter und Scharlatane spiritueller Gemeinschaften vom Sockel. Die Wellness-Welt erlebt ihren MeToo-Moment.
Die kalifornische Sektenforscherin Janja Lalich hat 1997 in ihre Studie „The Psychosexual Exploitation of Women in Cults“ erforscht, dass 40 Prozent aller Frauen in Sekten, ob christlich oder esoterisch, sexuell missbraucht werden. In allen totalitären Gruppen, nicht nur denen, die wie Agama international Schlagzeilen machten, spielt Sexualität eine zentrale Rolle. Sie wird entweder unterdrückt, verzerrt, amplifiziert oder vorgeschrieben. Sexuelle Kontrolle ist ein Teil der Machtausübung. Als ich das Standardwerk „Cults in our midst“ lese, das Lalich mit der Expertin Margaret Singer geschrieben hat, habe ich Aha-Momente, die meine früheren Workshop-Highs entmystifizieren: Wer im Strudel eines Kurses auf den gleichen Durchbruch wie die anderen Teilnehmer hofft – erst recht, wenn viel Geld bezahlt wurde – wird kaum vor anderen die Stimme erheben, wenn sich etwas in der Gruppendynamik falsch anfühlt. Erst recht nicht, wenn man dann zu hören bekommt, dass man im „Opferbewusstsein“ feststecke oder seinen eigenen „Schatten“ noch nicht bearbeitet habe. Die Botschaft: Dein Problem bist immer du selbst.
Die Aufarbeitung
Ernüchtert fliege ich zurück nach Neuseeland, aber mit Zwischenstopp in England. Ein letztes Mal bin ich dort Assistentin bei ISTA. Die beiden Leiterinnen, die ich mag und respektiere, sind für meine Warnungen, dass ihre Schule irgendwann wie Agama enden könne, nicht offen. Der Kurs ist bis auf den letzten Platz gefüllt und wir Helfer am Limit. Der Geräuschpegel der vielen Schreie, die Dramen und Eruptionen ermüden mich. Vieles kommt mir jetzt performativ und erzwungen vor. Doch dann gibt es wieder magische Momente und ich schwelge in Ekstase.
Meine Selbsterfahrungsreise, die 2012 in Byron Bay begonnen hatte, sollte auch dort enden. Ich melde mich wieder für einen Kurs an, diesmal das „Wheel of Consent“, oder Konsens-Rad, das auch am Anfang jedes ISTA-Kurses gelehrt wird. Ich lerne, was im Nervensystem passiert, wenn jemand traumatisiert ist. Und dass man ein inneres „Ja“ oder „Nein“ kaum auf Achterbahnfahrt im Erlebnisrausch spüren kann, wenn durch mangelnde Privatsphäre und pausenlose Intensität Grenzen missachtet werden.
Der Konsens-Kurs ist eine Offenbarung. Keiner meiner ehemaligen Kursleiter war in diesen Fragen kompetent gewesen. Während der Tage in Byron Bay kommen im Internet neue Skandale über andere Tantra-Schulen wie TNT in den Niederlanden ans Licht. Und auch über einen ehemaligen prominenten ISTA-Lehrer vom „Taste of Love“-Festival. Am Rande einer ähnlichen Veranstaltung in Europa war er in Einzelsitzungen, die er Frauen anbot, sexuell übergriffig gewesen. Die Neo-Tantra-Szene, der ich erst so skeptisch und später offen begegnet war, ist für mich verdorben. Ich höre auf, die ISTA-Kurse zu empfehlen, in die ich mich einst gestürzt hatte. Erst mal brauche ich Abstand. Dann Aufarbeitung.
In den folgenden Monaten und Jahren habe ich viele Fragen an mich selbst: Wie konnte ich mich in dieser Bewegung verlieren? War ich nur süchtig nach den intensiven Begegnungen, der Flucht aus dem Alltag? Und welche Rolle habe ich als Assistentin in dem verwobenen Machtgefüge des ISTA-Tribes gespielt? Vielleicht war der Wunsch, zu den Coolen zu gehören, größer als der Respekt vor den persönlichen Grenzen anderer. Plötzlich kann ich mich mit denen identifizieren, die die Schattenseiten von Agama und Centrepoint zwar erkannten, aber ihre Freundschaften und das Gruppengefühl nicht verlieren wollten. Mir wird klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Das löst auch Trauer aus.
Ich bin nicht ausgebeutet oder missbraucht worden, habe weder Freunde noch Familie aufgegeben, konnte mir die Kursgebühren leisten. Niemand drängt mich, weiterzumachen oder überschüttet mich wegen des Ausstiegs mit Hass. Dennoch fühle ich mich wie eine Verräterin.
Auf einer Sektenkonferenz lerne ich, dass jeder und jede anfällig dafür sein kann, verführt und manipuliert zu werden. Wer in eine sektenähnliche Gruppe gerät, ist weder dumm noch schwach. Im Gegenteil. Oft sind es erfolgreiche, sozial engagierte, offenherzige Suchende, getrieben vom Wunsch nach einer besseren Welt. Sektenexperten sagen, diese Suche könne ewig andauern, bis man das verlorene Paradies in neuer, scheinbar besserer Umgebung findet. Das wird in der Branche „Cult hopping“ genannt. Auch mein Blick auf Centrepoint und Agama verändert sich mit Loslösung von ISTA. Je mehr ich realisiere, was mich an diese Szene gebunden hat, desto weniger verurteile ich jene pauschal, die in einer abgeschlossenen Umgebung sehr viel extremere Dinge hatten geschehen lassen. Wo hätte ich mich – unter deutlich mehr Druck – wohl auf der Mitläuferskala bewegt?
Das Nachspiel
2021 bekomme ich einen neuen Buchvertrag und greife meine früheren Recherchen wieder auf. Jetzt interessiert mich weniger, welche Rolle die loyalen Anhänger einst in ihrer Minidiktatur spielten, sondern, wie sie sich nach dem Zusammenbruch des Systems verhielten. Halten sie nach wie vor an der alten Ideologie fest – oder sind sie in einen Aufarbeitungsprozess involviert, der den Betroffenen hilft?
In Neuseeland haben sich bisher nur wenige aus der Centrepoint-Gemeinschaft für einen Wiedergutmachungsprozess engagiert. Erst vor zwei Jahren gab es anlässlich einer TV-Dokumentation einen Appell der ehemaligen Sektenkinder an das Gewissen der Älteren. Agama Yoga in Thailand existiert nach wie vor, als sei der Missbrauchskandal von 2018 nie passiert – mit dem Hauptverantwortlichen an der Spitze der Schule anstatt vor Gericht. Die Vergewaltigungen wurden zu spät angezeigt, nach drei Monaten waren sie in Thailand bereits „verjährt“.
Als ich 2022 mein Buch im zweiten Anlauf zu Ende bringe, erreicht schließlich auch ISTA ein Shitstorm. Ein Jahrzehnt lang war die Organisation unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit weltweit expandiert, auch in Europa, USA, Asien und Israel gibt es Festivals. Doch plötzlich vernetzen sich über 600 Leute in einer Facebook-Gruppe, wo mehr und mehr problematische bis schockierende Vorfälle ans Licht kommen – bis hin zu Vergewaltigungs- und Selbstmordvorwürfen. Das ist auch für mich neu.
In den folgenden Monaten werden über 60 Berichte von einer unabhängigen Gruppe namens Safer Sex-Positive & Spiritual Communities (3SC) gesammelt. Darin geht es um Sex zwischen Lehrenden und Teilnehmenden, um das Verschleiern von schweren Vorwürfen, um Manipulation und Machtmissbrauch. Aktivisten kontaktieren Veranstaltungszentren, um Kurse zu canceln.
ISTA reagiert mit juristischen Drohungen, aber auch mit ersten Veränderungen wie Traumafortbildung für die „Fakultät“ und einem verbesserten Feedback-System für Beschwerden. Geschädigten wird Mediation angeboten. Intimer Körperkontakt zwischen Kursleitung und Teilnehmerschaft ist seit November 2022 vorübergehend unterbunden, eine endgültige Entscheidung darüber sei in Arbeit, heißt es. Es sei „oberste Priorität“, dass man in ISTA-Räumen sicher „Nein“ sagen könne, schreibt mir ein Lehrer auf Anfrage. Auf seiner Website distanziert sich ISTA vom umstrittenen Gründer.
Doch ein Hauptbeschuldigter ist nach wie vor in der Führungsspitze: Ohad „Pele“ Ezrahi, ein ehemaliger Rabbi, der Anfang des Jahres versucht hat, trotz angekündigter Pause heimlich einen Kurs abzuhalten – ausgerechnet auf Koh Phangan, der Insel des Agama-Dramas. Im April wurde er in Israel wegen eines sexuellen Übergriffs angezeigt.
Unabhängig davon, ob sich der Tribe von seinen Tätern trennt, ist meine Recherchereise vorbei. Betroffenen helfe ich weiter, und ich versuche, eine Sektenberatungsstelle in Neuseeland mit aufzubauen. Meine Sehnsucht nach fremden Ufern und echter Gemeinschaft aber bleibt.
Anke Richter lebt als Korrespondentin und taz-Kolumnistin in Neuseeland. Ihr Buch Cult Trip: Inside the world of coercion & control (HarperCollins, 2022) stellt sie am 4. Juli in der taz-Kantine vor.
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