Kommentar von Alexander Diehl über historischen Nachholbedarf bei der Braunschweiger Staatsanwaltschaft: Nicht die Zeit für Akribie
Was lange währt … Zweimal hat die Braunschweiger Staatsanwaltschaft sich nicht dazu durchringen können, Anklage zu erheben gegen Martin Kiese: Als „Judenpresse“ und „Judenpack“ hatte der Funktionär der rechtsextremen Partei „Die Rechte“ im Herbst 2020 Journalist:innen bezeichnet. Aus Sicht der Anklagebehörde war das keine Volksverhetzung, zweimal wurden entsprechende Verfahren eingestellt. Nun aber soll der inzwischen 53-Jährige doch belangt werden. Dass das so lange gedauert hat, muss den Beteiligten zu denken geben.
Was ist passiert? An den Vorwürfen selbst hat sich nichts geändert, es sind keine zusätzlichen Missetaten bekannt geworden, Kiese wird nichts Neues zur Last gelegt. Anders ist aber, wie die Anklage dieselben Aussagen heute einschätzt: Wenn die Formulierung „Judenpresse“ in einer NSDAP-Publikation von 1931 antisemitisch gemeint war, muss sie das wohl auch 2020 gewesen sein, sagt sinngemäß der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Man könnte diese Akribie rührend finden oder darin einen Ausweis erkennen für einen guten, weil unaufgeregt nicht wechselhaften Tageslaunen folgenden Rechtsstaat – wären die Zeiten andere, als sie sind.
Diese Zeiten aber sind geprägt vom offensichtlichen, teils aggressiven Aufweichen einer jahrzehntealten Übereinkunft. Wo nicht mehr nur ganz rechts außen der Ruf nach „Normalisierung“ laut wird, nämlich der des Umgangs der Deutschen mit ihrer Schuld, da bilden Staatsanwälte mit solchem historischen Nachholbedarf schnell nur die andere Hälfte ein- und desselben Zangenangriffs – der auf Dauer nicht nur den bei nächster Gelegenheit wieder ritualisiert-blutleer geehrten „jüdischen Mitbürgern“ gelten wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen