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Neues Album von Nabihah IqbalUtopie auf dem Dancefloor

Euphorie beim Tanzen, freie Liebe, alte Literatur und der Hall im Bad der Oma – das alles verbindet die Musik der Londoner Künstlerin Nabihah Iqbal.

„Dreaming and dancing“: Musikerin Nabihah Iqbal Foto: Joseph Hayes

Manche Dinge passieren aus gutem Grund, heißt es. Nabihah Iqbal hört diese Lebensweisheit derzeit ziemlich oft, wenn sie über ihr neues Album „Dreamer“ spricht – zynischerweise in Zusammenhang mit zwei der schlimmsten Ereignissen ihres Lebens.

Erstens dem Einbruch in ihr Londoner Studio, bei dem die komplette Produktionsarbeit an ihrem zweiten Album verloren ging und somit vernichtet wurde. Und zweitens einem Anruf ihrer Großmutter aus Pakistan. „Sie erzählte mir weinend, dass mein Großvater eine Hirnblutung erlitten hatte“, berichtet die britische Produzentin und Musikerin aus London. Im Ernst: Wo soll da der gute Grund sein?

Nabihah Iqbal packte jedenfalls nach dem Anruf die Koffer und flog kurzerhand nach Pakistan. Das war im März 2020, kurz vorm Corona-Lockdown. Statt zweier geplanter Wochen blieb sie zwei Monate im Geburtsland ihrer Eltern.

Die 35-Jährige macht nicht nur Musik, sie ist auch als DJ aktiv, hält Vorträge über Musik und betreut eine eigene Sendung beim britischen Netzradiosender NTS. In Karatschi, der größten Stadt Pakistans, stöberte sie durch die Plattenläden, kaufte eine Sitar und ein Harmonium, eins der am meisten verbreiteten Instrumente der traditionellen indischen und pakistanischen Musik.

Das Album

Nabihah Iqbal: „Dreamer“

(Ninja Tune/Rough Trade/Indigo)

Damit begann Iqbal, die Musik ihres Albums noch einmal ganz von vorne zu komponieren, dieses Mal nicht am Computer im Studio, sondern mit analogen Instrumenten: Plötzlich fand sie sich mit dem Harmonium auf dem Fußboden im Badezimmer ihrer Großeltern wieder, in einem Raum mit hohen Decken und Marmorwänden.

„Echo“ auf Urdu

„Das Echo darin ist unglaublich. Irgendwann kam meine Großmutter rein und hat gefragt, was ich da mache. Ich habe versucht, es ihr zu erklären, kannte aber das Wort für ‚Echo‘ auf Urdu nicht.“ Dabei spielen Hall und Echo auch auf „Dreamer“, Iqbals zweitem Soloalbum, eine große Rolle. Nicht nur ihr Harmonium jagt sie durch verschiedene Hall- und Effektgeräte, auch die Synthesizer und ihre oft gesprochen eingesetzte Stimme sind so verfremdet, bis sie von weit her bis zu uns herüberwehen.

Während das verfremdete Harmonium elliptisch den Musikreigen des Albums eröffnet und auch wieder beschließt, ist die Sitar genau in der Mitte platziert. In „Lilac Twilight“ schichtet Iqbal akustische Gitarren und die Sitar übereinander, es ist das einzige Stück, das ohne Verfremdungseffekte bleibt, und das erste Mal, dass sie überhaupt Instrumente aus ihrem kulturellen Pakistani-Erbe in ihrer Musik verarbeitet, erzählt Iqbal der taz am Telefon aus London.

Und doch muss man sie suchen, diese beiden Instrumente, zwischen den Synthesizern, Effektgeräten und Drums, die mal an den düsteren 80er-Jahre-Pop von New Order, mal an amtliche elektronische Club-Beats erinnern.

Auch in der dancy Komposition „Gentle Heart“ umspielen sich Beats und Synthesizer sowie Iqbals softe, ätherisch klingende Stimme. „I’m dreaming and dancing / Dancing and dreaming“, singt Iqbal und beschreibt die Erlebnisse eines Sommerabends, zusammen mit Menschen zu tanzen, ohne sich über etwas Sorgen zu machen.

Tanzen wie in Trance

Der Dancefloor bleibt für diese Musikerin ein utopischer Ort, ein sicherer Raum für alternative Vorstellungen. „Oh ja, auf jeden Fall! Der Dancefloor ist einer dieser Orte der kollektiven Musikerfahrung. Niemand kann so recht erklären, warum Musik auf bestimmte Weise wirkt. Ich glaube, das geht auf etwas Ursprüngliches zurück. In Pakistan war ich in Lahore auf einer Sufi-Zusammenkunft, als die Leute durch die Musik high wurden. Alle tanzen und schütteln sich, wie in Trance zu lauten, intensiven Trommeln.“

Die Essenz davon sei dasselbe wie im Soundgewitter auf der Tanzfläche eines Clubs: „Es geht darum, sich einfach in der Musik zu verlieren.“

Schon ihr Debütalbum „The Weighing of the Heart“ von 2017 war nach einem ägyptischen Mythos benannt. „Dreamer“ interpoliert nun unter anderem klassische englische Literatur von Thomas Hardy aus dem späten 19. Jahrhundert. In Hardys Roman „Tess“ erlebt ein junges Mädchen aus ärmeren Verhältnissen jedes erdenkliche Unglück, denn sie bringt einen kärglichen Alltag in einer Welt zu, die nicht für sie gemacht ist. „This world couldn’t see us / This world couldn't keep us“, sprechsingt Iqbal im gleichnamigen Song, der mit dem Doppel­suizid zweier Liebender endet.

In einem anderen Raum

Iqbal verschränkt den Text über die Unfreiheit eines englischen Mädchens aus dem Viktorianischen Zeitalter mit Gedanken zur Freiheit der Liebe in der Gegenwart: „Manchmal fühlt es sich so an, als wäre echtes Glück niemals möglich. Weil unsere Gesellschaft dafür nicht angelegt ist. Millionen Menschen genießen gar nicht die Freiheit, das zu tun, was sie am liebsten möchten. Selbst eine Gesellschaft wie unsere ist nicht so frei, wie man vielleicht glauben will.“

Ihre Texte klingen dabei wie epische Langgedichte, die in einer poetischen Kryptik über der ätherischen Produktion schwebt. Doch scheint die Liebe in verschiedenen Formen immer wieder eine Rolle zu spielen: „I knew it was love / And I felt it was glory / But you’ve never told me / The end of the story / Feel the power“, singt Iqbal in „Sunflower“.

Auch den Albumtitel „Dreamer“ verdankt Nabihah Iqbal einer literarischen Primärquelle: „Es war das erste Mal, dass mich ein Gedicht zum Weinen gebracht hat“, erinnert sie sich und erwähnt einen Text von Arthur O’Shaughnessy. Der britische Autor und Zoologe beschreibt in „Music Makers“ den Sinn von Musik, eine alternative Welt zu erschaffen.

Genau das gelingt auch Nabihah Iqbal mit ihrem neuen Album „Dreamer“, das diesen Gedanken mit der Welt des Traums verschränkt: „Musik kann dich an einen anderen Ort transportieren – ganz ähnlich wie ein Traum.“

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