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Slowjansk nach einem RaketenangriffIn Erwartung eines Wunders

Nach der Zerstörung eines Wohnblocks im ostukrainischen Slowjansk geht die Suche nach Überlebenden weiter. Die Stadt versucht, Ostern im Krieg zu feiern.

Russische Raketen in Slowjansk: Insgesamt ist von elf Todesopfern, darunter das zweijährige Kind, und 21 Verletzten die Rede Foto: Roman Chop/ap

Slowjansk taz | 1.15 Uhr morgens, es ist stockdunkel. Das Ziel der nächtlichen Autofahrt ist Slowjansk in der ostukrainischen Region Donezk. Die Stadt ist nur 45 Kilometer von Bachmut entfernt, derzeit der „heißeste“ Punkt an der Front. Momentan sind alle Frontstädte in der Ukraine nicht beleuchtet, aber über Slowjansk ist eine helle Lichtsäule sogar schon aus einer Entfernung von 15 Kilometern zu sehen. Im Schein dieses Lichts läuft eine Such- und Rettungsaktion in der Nähe des Hauses Nummer sechs in der Parkowy-Gasse. Dort ist am Freitag gegen 16 Uhr eine russische Rakete vom Typ S-300 eingeschlagen.

Die ganze Nacht schon kämpfen sich ukrainische Rettungskräfte trotz mehrfachen Alarms und drohender weiterer Angriffe durch die Trümmer, unter denen sich fünf Menschen befinden sollen. Es wird ohne Unterbrechung gearbeitet, nur hin und wieder gibt es kurze Pausen – „Schweigeminuten“, wenn alle technischen Geräte ausgeschaltet sind und die Arbeiter des staatlichen Rettungsdienstes versuchen, Hilferufe der Verschütteten zu hören. Vor Ort gibt es viel technisches Gerät und zwei Hochhauskräne, die die Platten entfernen. Die Rettungsteams wechseln sich ständig ab, lange sind solche körperlichen Belastungen nicht auszuhalten.

Retter in einem Zelt in der Nähe des beschossenen Geländes sinken erschöpft zu Boden, um wenigstens für ein paar Minuten zu schlafen. Die Nacht ist sehr kalt, hin und wieder schneit es. Gegen fünf Uhr bricht die Morgendämmerung an. Zum Einsatzort sind weitere Brigaden des staatlichen Rettungsdienstes aus den Nachbarstädten der Region Donezk gekommen.

In der Straße tauchen vereinzelt Menschen auf – Verwandte der fünf Personen, die noch unter den Trümmern liegen. Die Hoffnung, dass ihre Angehörigen noch am Leben sind und bald gerettet werden – mehr bleibt ihnen nicht. „Wenn nur ich betroffen wäre, würde ich gehen. Aber meine Mutter ist bettlägerig. Wohin soll ich sie bringen?“, sagt Lilija Moroz, die in dem zerstörten Haus gewohnt hat. Eine Freundin hat Lilija einen Osterkuchen gebracht und versucht, sie moralisch zu unterstützen. Obwohl die Rakete nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt eingeschlagen ist, blieb Lilija die ganze Nacht zu Hause. Nicht alle Be­woh­ne­r*in­nen des Hauses Nummer sechs hätten dieses verlassen.

Zwei Angriffe mit S-300-Raketen

Zum Zeitpunkt des Angriffes sei sie in ihrer Wohnung gewesen. „Ich hatte mich hingelegt, zum Fernsehen gucken. Der erste Schlag traf das Haus gegenüber. Eine Sekunde später – der nächste, unser ganzes Haus erbebte. Ich ging in die Küche und schaute nach – überall Staub, Teile des fünften Stocks lagen auf der Straße. Bei uns im vierten Aufgang, wo die Rakete eingeschlagen ist, lebte eine ältere Frau, eine Bekannte von mir. Da steht Aleksej, ihr Sohn“, sagt Lilija und zeigt auf einen Mann mittleren Alters.

Tatsächlich hat es auf die Parkowy-Gasse in Slowjansk zwei Angriffe mit S-300-Raketen gegeben. Bei dem zweiten explodierte die Rakete jedoch in der Luft. Umherfliegende Splitter setzen mehrere Wohnungen eines Nachbarhauses in Brand, aber größere Zerstörungen blieben aus.

Weil es so wenige Leute gab, sind sich alle sofort näher gekommen. Wir haben zusammen ein Feuer angezündet, wenn es kein Gas gab

Lilija Moroz, Bewohnerin aus Slowjansk

Lilija fragt, ob die Leiche ihrer Freundin gefunden worden sei. Am Samstagmorgen wird die Rettungsaktion fortgesetzt. Obwohl die Einsatzkräfte die ganze Nacht ununterbrochen gearbeitet haben, war das jedoch nicht der Fall. Als Lilija das hört, seufzt sie und sagt: „Das macht mich fertig. Aleksejs Mutter hatte einen Nachbarn, Witja, ein grauhaariger Mann – einfach weg. In der vierten Etage hat Michail gewohnt. Ihm sei sofort eine Platte auf den Kopf gefallen, haben die Rettungskräfte gesagt. Seine Tochter wurde noch lebend geborgen und ins Krankenhaus gebracht. Es ist schrecklich.“

Die Rentnerin sagt, dass sie alle Leute des Nachbaraufgangs, wo die Rakete eingeschlagen sei, gekannt habe. „Wir haben hier so viel durchgemacht“, sagt sie und spricht im Präsens von den Toten. „Im letzten Jahr, als alle gegangen sind, sind wir geblieben. Weil es so wenige Leute gab, sind sich alle sofort näher gekommen. Wir haben zusammen ein Feuer angezündet, wenn es kein Gas gab. So konnten alle überleben“, erzählt sie.

An diesem Samstag feiern orthodoxe Chris­t*in­nen in der Ukraine die Auferstehung Christi, aber Lilija ist nicht danach zumute. „Ich bin nicht in Stimmung. Am Karfreitag haben einige Leute Osterkuchen gebacken, aber der ist misslungen“, sagt sie. Lilija wird trotz der Schäden an ihrem Haus nicht weggehen. „Was sein wird, wissen wir nicht. Das alles ist beängstigend. Auf meine Schultern kann ich meine 82-jährige Mutter nicht nehmen. Und ich werde 62.“

„Dann, sahen wir eine Rauchwolke“

In ukrainischen Städten an der Front haben die Menschen keine Lust, mit Jour­na­lis­t*in­nen zu sprechen. Das Schicksal dieser Siedlungen ist noch nicht endgültig entschieden, daher sind die Be­woh­ne­r*in­nen vorsichtig, etwas zu sagen, das ihnen schaden könnte. Die Opfer sind noch verschlossener.

Das gilt auch für Aleksej, dessen Mutter immer noch unter den Trümmern liegt. Der Mittfünfziger läuft durch den Innenhof eines mehrstöckigen Hauses von einem Eingang zum anderen. Er sagt, dass seine 77-jährige Mutter während des Angriffes in ihrer Wohnung im fünften Stock gewesen sei. Aleksej weiß nicht, was er als Nächstes tun wird, aber in diesem Haus und in dieser Gegend leben, das wolle er definitiv nicht. Er weicht Antworten auf jede erdenkliche Weise aus und versucht, sich wegzustehlen.

Um sechs Uhr morgens erwacht Slowjansk. Ein 64-jähriger Rentner, auch er heißt Aleksej, kommt aus einem benachbarten fünfstöckigen Gebäude, um mit seinem Hund einen Morgenspaziergang zu machen. Er war zum Zeitpunkt des Raketenangriffs nur wenige hundert Meter von seinem Haus entfernt. „Das waren scharfe Explosionen. Man hörte die Rakete, aber zunächst war nichts zu sehen. Dann sahen wir eine Rauchwolke“, erinnert er sich.

Aleksej sagt, dass in dem zerstörten Aufgang sein Freund wohne. „Ich bin hergekommen, um nach ihm zu sehen – und da kommt er, von Kopf bis Fuß voll weißem Staub. Ich rannte zu ihm hin. Sein Kopf war völlig lädiert, überall waren so große Beulen. Gerade als die Rakete kam, war er bei einem Kumpel im fünften Stock gewesen. Während der Explosion wurde er durch die Druckwelle in ein anderes Zimmer geschleudert.“

Aleksej erzählt, wie sein Freund ihm noch erklärt habe, dass er dort in dem Zimmer auf einem Bett lag und plötzlich sah, wie ein Herd auf ihn zu geschleudert wurde. An einer engen Stelle des Zimmers sei der Herd stecken geblieben, direkt vor dem Bett. Das habe seinem Freund das Leben gerettet. Er sei einer der ersten gewesen, der unter den Trümmern herauskam, alles bröckelte und rumpelte noch. Ein Rettungswagen brachte ihn sofort ins Krankenhaus, so Aleksej.

Osterzeit in Kriegszeiten

„Ich habe keine Ahnung, wie ich heute irgendwas feiern soll. Die Seele kann sich nicht mehr freuen, so wie das in Friedenszeiten war. Da gingen wir alle zusammen nachts in die Kirche zum Ostergottesdienst, das war alles so schön. Und jetzt denkst du nur noch daran, wie es überhaupt weitergehen soll“, sagt Aleksej. „Ich verstehe das Ziel dieses Angriffs nicht. Wer wird hier getötet? Hier sind fast nur noch alte Leute, die jungen sind doch alle weg, sogar meine Neffen sind mittlerweile in England.“

Neben dem Haus versucht ein anderer Bewohner ein paar Habseligkeiten zu finden. Es ist der 68-jährige Igor. Seine Wohnung war im dritten Stock des benachbarten, fünften Aufgangs. Auch dieser Aufgang ist zum Teil zerstört. Igor erzählt, dass er während des Raketenangriffs zu Hause war. „Ich schlief schon, alles war wie immer. Ich hatte zuerst absolut nichts mitbekommen, weil ich mittlerweile schon so an all das gewöhnt bin. Aber dann konnte ich es gut hören. Zuerst dachte ich, dass es das Haus gegenüber getroffen habe. Dann kam die Druckwelle – alle Scheiben gingen zu Bruch und meine Wohnungstür.“

Igor sagt, dass er die Toten aus dem fünften Stock gekannt habe, auch die Mutter von Aleksej. Sie hieß Walentina Korolkowa. In dem Haus, in das die Rakete eingeschlagen war, hätten ganz gewöhnliche Menschen gelebt, keine reichen. Die Nacht nach dem Einschlag habe er bei einem Freund verbracht, werde aber versuchen, in den nächsten Tagen wieder in seine Wohnung zu ziehen.

Neben dem zerstörten vierten Aufgang versammeln sich Anwohner*innen. In der Nähe der Rettungskräfte steht eine alte Frau und betet. Sie heißt Anna. Irgendwo im zerstörten Gebäude ist noch ihr Sohn, der 41-jährige Alexander, der im ersten Stock wohnte. Durch einen Arbeitsunfall hat er eine Behinderung. Jetzt ist er wahrscheinlich in einem Kellerraum unter den Trümmern des Hauses begraben. Anna erzählt, dass sie in der Kirche war, als die Rakete einschlug, um das Abendmahl und den österlichen Segen zu empfangen.

Sie habe später versucht, noch ein paar Lebensmittel aus ihrer Wohnung zu retten, um nicht ganz ohne alles dazustehen. Aber während des Bergungs- und Rettungseinsatzes sei niemand ins Haus gelassen worden. Die alte Dame ist jetzt vorläufig bei ihrer Tochter untergekommen. Als Anna erfährt, dass man am Freitag aus den Trümmern ein zweijähriges Kind geborgen hat, das noch im Rettungswagen auf dem Weg ins Krankenhaus starb, beginnt sie laut zu weinen: „Herr, schick uns Frieden!“

Die Suche nach den Opfern geht weiter. Die Rettungskräfte sagen, dass die russische Rakete den Plattenbau bis in den Keller durchbohrt habe. Dadurch sei dort ein Krater entstanden, in den Trümmer des Hauses gefallen seien und die Menschen wahrscheinlich darunter verschüttet haben. Es sei daher möglich, dass die bislang noch Vermissten unter einer sehr dicken Betonschicht begraben seien.

Gegen Mittag werden am Samstag zwei weitere Leichen gefunden, drei Menschen gelten noch als vermisst. Insgesamt ist von elf Todesopfern, darunter das zweijährige Kind, und 21 Verletzten die Rede. Die Rettungskräfte werden so lange weitersuchen, bis alle Vermissten gefunden sind. Wie lange das dauern wird, lässt sich nicht sagen. Die Angehörigen stehen neben dem zerstörten Wohnhaus und hoffen auf ein Wunder.

Aus dem Russischen von Barbara Oertel und Gaby Coldewey

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2 Kommentare

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  • Beim Betrachten des Bildes oben erinnere ich mich, dass Putin zu Beginn des Krieges und seither immer wieder betont hat, dass sich seine militärische Spezialoperation keineswegs gegen die Zivilisten in der Ukraine richtet! Warum glaubt ihm bloß keiner, und was muss er denn noch alles tun, damit ihm endlich jemand glaubt?

  • Russland ist rin Terrorstaat.