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Die WahrheitNapoleon und andere Größen

Erfahrung, Erkenntnis und Erdanziehungskraft sind die Gewinnzonen des Alters. Manchmal kommt es zu einem wahren Dammbruch der Erleuchtung.

Der historische Bonaparte war ein Riese, der das Brandenburger Tor überragte Foto: reuters

Ich bin sehr zufrieden mit meinem Alter, das mir endlich die Fähigkeit verleiht, auch die großen Zusammenhänge zu verstehen. Wer jung ist, schneidet vielleicht gerade noch banale Kausalitäten wie zwischen Klimawandel und dem Untergang der Menschheit mit, aber natürlich keine komplexeren Erwachsenenthemen. Denn sobald es um wirklich wichtige Dinge geht, ist ohne ein gerüttelt Maß an Geistes- und Herzensbildung nichts zu holen.

Älter zu werden, ist gleichbedeutend mit der unermesslichen Anhäufung von Wissensschätzen

Und das setzt nun mal eine gewisse Erfahrung voraus. Vieles habe ich mir ja selbst erst in den letzten Jahren an­geeignet. Ich nehme an, es gibt – in entwicklungsbiologischer Hinsicht dem Schließen der Fontanellen beim Säugling nicht unähnlich – ein Alter etwa um die Lebensmitte herum, in dem sich irgendwelche zuvor zweckfrei brachliegenden Hirnsynapsen erstmals zu einem Zentral­nervensystem verschalten, das diesen Namen überhaupt verdient. Wie von Zauberhand fügt sich in meinem Kopf nunmehr Mosaiksteinchen an Mosaiksteinchen.

Nehmen wir zum Beispiel die Sache mit Moses. Bei dem habe ich mich, wie vermutlich Milliarden andere ebenfalls, immer gefragt: „Hä? Wieso keucht der da den Berg Sinai hoch, um die zehn Gebote zu empfangen? Das ist doch total anstrengend. Warum wartet der nicht unten im Homeoffice, Gott ist ja schließlich viel mobiler – soll der halt zu ihm kommen, der beamt sich doch in Sekunden überall hin.“

Da fiel bei mir im Rahmen einer Reise ins Voralpenland plötzlich der Groschen: Klar Mann, der hat ja da unten gar kein Netz. Und WLAN gab es vor zehntausend Jahren garantiert noch nicht. Da muss er praktisch auf den Berg rauf, wenn er die Infos vernünftig abrufen will.

Morgenstern in die Fresse

Oder – eine weitere späte Epiphanie – die Körpergröße von Napoleon Bonaparte: Wohl aus Neid und weil man anscheinend über keine echten Vorwürfe verfügt, wird seit zweihundert Jahren das penetrante Gerücht von seinem Kleinwuchs verbreitet. Im Grunde hat man damit durch die Blume ausgedrückt, dass er ’nen kleinen Pimmel hatte. Weil du das Wort Pimmel damals ja nicht aussprechen durftest. Das war ein absolutes Tabu. Aber bei dem Buzzword „klein“ wussten die Leute schon Bescheid, das war wie so ein zeitgenössischer Code. Und alle dann so hintenrum: hihi, hihi, hihi!

Wahnsinnig witzig. Wenn das das Ergebnis der sogenannten Aufklärung gewesen sein soll, möchte man der Abklärung nicht im Dunkeln begegnen. Da hat man bestimmt Jokes über Behinderte gerissen, und wer seine Katze Muschi nannte, wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. So viel übrigens dazu, dass man heute angeblich nichts mehr sagen dürfe. Früher kriegte nämlich jeder, der nur piep sagte, sowieso gleich den Morgenstern in die Fresse – wham, bam, thank you Ma’am!

Leider habe auch ich derlei historischen Blödsinn fast mein gesamtes bisheriges Leben lang unkritisch abgenickt. Schlimm eigentlich. Doch mit einem Mal fing mein frisch defragmentiertes Hochleistungsgehirn an, akkurat zu denken: Halloo?, dachte es, im Stil eines Fünfjährigen, doch in der Sache vollkommen zu Recht. Was soll denn das bitte für ein Argument sein? Das ist doch schlicht Short Shaming.

Und nichts weiter. Dass es noch nicht mal technisch stimmt, weil Napoleon für damalige Verhältnisse sogar eher groß war, spielt dabei keine Rolle. Denn der Spott über Äußerlichkeiten, für die die Betroffenen nichts können, ist grundsätzlich der falsche Weg, nicht zuletzt deshalb, weil man sich damit ohne jede Not ins Unrecht setzt. Denn anstatt sich über das Aussehen oder die Rechtschreibschwäche von Rechtsextremen zu mokieren, ließen sich mühelos geeignetere Sachargumente gegen Nazis, Napoleon oder Putin vorbringen, als dass man ihren Schwanz zu kurz oder ihren Tisch zu lang findet.

Dammbruch der Erleuchtung

Ohnehin sind meine späten Jahre mit tiefgründigen Erkenntnissen nur so gespickt. So klärten sich ab dem fünfzigsten Lebensjahr auch vermehrt sprachliche Missverständnisse: Es heißt weder „Servierte“, noch „Apfeleimer“ oder „Kiefernorthopäde“. Wow!

Als wäre ein Damm der Erleuchtung gebrochen, wurde ich fortan von weiteren Aha-­Momenten nur so überschwemmt: Dass der Sänger der „Ärzte“ womöglich gar nicht wirklich Farin Urlaub heißt; dass ich mich weniger vollpisse, wenn ich beim Pinkeln die Vorhaut zurückziehe; dass man für einen Screenshot nicht den Bildschirm mit der Digitalkamera abfotografieren muss; und dass das seltsame Loch in den Deckeln der Coffee-to-go-Becher, das ich stets für ein affiges Designelement gehalten hatte, tatsächlich einem Zweck dient: Wo ich jahrzehntelang mühsam den Deckel abfummelte, bis mir im schlingernden Bus die heiße Flüssigkeit unkontrolliert über Hemd und Hose schwappte, kann ich nun sauber und gefahrlos durch das Loch trinken. Was für ein Zugewinn an Lebensqualität.

Älter zu werden, ist gleichbedeutend mit der unermesslichen Anhäufung von Wissensschätzen und der selbstlosen Bereitschaft, diese unentgeltlich zu teilen. Da könnten die jungen Menschen ruhig mal zuhören, anerkennend nicken und dankbar sein. Allzu gern würde ich sie dafür ohrfeigen, dass sie es nicht tun. Aber man soll ja die Spaltung zwischen den Generationen nicht noch weiter vorantreiben. Die ist eh schon schlimm genug, und Ageismus ist der einzige -ismus, der perfekt in beide Richtungen funktioniert.

Unsachliche Jugend

Früher sagten die Alten einfach, „Halt die Schnauze, solange du die Füße unter meinen Tisch stellst“. Später sagten sie etwas leiser, „Sei bitte still, solange du die Füße auf meinen Tisch legst“, und heute, sobald wir Älteren auch nur irgendwas sagen wollen, und sei es bloß, „Pass auf, da vorne kommt ’ne Ampel“, das heißt, noch nicht mal was Politisches oder so, kommt daraufhin von den Jungen durch die Bank sofort: „Du hässliche alte Kröte, du bist so lächerlich, halt’s Maul, geh sterben.“

Also schon ein bisschen unsachlich, wie auch bei Napoleon. Und obwohl sie gute Gründe für ihren Konfrontationskurs haben mögen, finde ich doch lustig, dass sie offenbar fest davon ausgehen, sie selbst blieben für immer jung. Wie soll das denn gehen? Dass ich auch das besser weiß, ist ebenfalls meiner immensen Erfahrung geschuldet.

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