Lesung mit Diether Dehm: Schmutzige Fantasien

Politiker und linker Edge Lord mit Gespür für Reizthemen: Dieter Dehms aktuelles Buch handelt von „Pornographie und Klassenkampf“.

Der Politiker und Musikproduzent Diether Dehm telefoniert mit dem Handy

Hier spielt die Musik: Diether Dehm Foto: imago

OLDENBURG taz | Um kurz nach sieben kommt einer aus der Tür des „Café Extrablatt“. „Hallo?!“, ruft er einem anderen zu, der, das Handy am Ohr, etwas entfernt in der Oldenburger Fußgängerzone steht. „Du hast doch nach der Lesung gefragt?“ Der sich da um seine Kundschaft bemüht, ist Diether Dehm, langjähriger linker Politiker, lange aber auch im westdeutschen Musikgeschäft unterwegs. Was ihn nun in die nordwestdeutsche Tiefebene führt – am Abend zuvor nach Wilhelmshaven –, ist der Umstand, dass Dehm, der dieser Tage 73 Jahre alt wird, promovierter Psychosomatiker ist. Beziehungsweise dass er ein Buch geschrieben hat, über ein psychologisches Thema, aus dem er nun hier am Rand der Republik liest.

Es ist nicht sein erstes Buch. Handreichungen zum Lieder-Betexten hat er geschrieben, einen Roman über die Entstehung der italienischen Partisanenhymne „Bella Ciao“, ein Buch über „Meine schönsten Skandale“. Popsongs, ein aufrichtig gemeint wirkender, aber manche Aktualisierung nicht unbedingt zur Kenntnis nehmender Antifaschismus, ein gewisser Stolz auf die Rolle des enfant terrible: Die wesentlichen Eckpunkte des Medienphänomens, der öffentlichen Person Diether Dehm wären damit genannt. Denn mag sie an so vielen Stellen bloß Floskel aus der Journalismus-Hölle sein, hier passt sie, die Rede von der „schillernden Figur“.

Mehr als viele andere in der deutschen Linken – aus der ihn man­che*r lieber gestern als heute ausgemeinden würde – hat Dehm verstanden, wie die gegenwärtige Aufmerksamkeitslandschaft zu bespielen ist; provoziert die einen, indem er den haftentlassenen Christian Klar beschäftigt oder beim Schottern an der Castor-Strecke erwischt wird, die anderen durch öffentliche Solidarisierung mit Ken Jebsen oder Sahra Wagenknecht oder immer irgendwie auch sarkastisch verpackte Bekenntnisse wie das, „Putinversteher“ zu sein. Über manche dieser Diskurs-Manöver kann man sich amüsieren, in anderen das Ansinnen aufspüren, Mit-Linke an mitunter verdrängte ideelle Kernbestände zu erinnern, noch mal andere wirken schlicht irrlichternd.

Geheilt vom Freudianismus

Und nun führt ihn ein Buch über „materialistische Psychologie“ nach Oldenburg. „Pornographie und Klassenkampf“ heißt es, auch ein Titel, der nicht frei ist von Kalkül: Für die einen ist das P- ein Reizwort, für andere das K-, und für Dritte sind gleich beide anstößig. Aber es klingt eben auch eine Epoche an, in der die Linke auch und gerade das Schlafzimmer zum Schauplatz kommender Befreiung erklärte – ob für alle Beteiligten (oder nur einen bestimmten Typ forscher Junggenossen): dahingestellt.

geboren 1950 in Frankfurt/Main, war Mitglied und teils Funktionsträger bei den Falken, Jusos und dem SDS, später der SPD, der PDS und der Partei Die Linke, über deren niedersächsische Landesliste er von 2005 bis 2021 im Bundestag saß. Mindestens so wichtig ist aber: Dehm übersetzte Lieder der niederländischen Band Bots ins Deutsche, darunter „Was woll’n wir trinken 7 Tage lang“, und war Liedtexter unter anderem für Klaus Lage, Anne Haigis, Heinz Rudolf Kunze und Udo Lindenberg. Sein meistverkauftes Lied ist 1000 und 1 Nacht (Zoom!), Klaus-Lage-Band 1984

Organisiert hat den Abend ein verdienter Linken-Politiker und engagierter Rechtsanwalt, die Zahl der Anwesenden ist einstellig geblieben, Autor und taz-Berichterstatter inklusive. Was wohl auch daran liegt, dass es zeitgleich eine Veranstaltung zum Ukraine-Krieg gibt, anderswo in Oldenburg. Vielleicht ja auch deshalb liest Dehm weniger, als dass er erzählt: von der in den 1930er Jahren in der Sowjetunion entwickelten „Tätigkeitstheorie“, aber auch von seinem eigenen Geheiltwerden, sozusagen, vom allzu bürgerlichen Freudianismus. Von Brecht, der manche seiner frühen Gedichte offensiv als „pornographisch“ bezeichnete, dann wieder vom Unvermögen der deutschen Sprache, für die Geschlechtsteile auch nur erträgliche Bezeichnungen hervorzubringen. Von den Versäumnissen des Marxismus, etwa in Hinblick auf die Rolle der Kunst, und von schmutzigen Fantasien, denen schmutzige Lebensverhältnisse vorausgehen.

Irgendwann geht es auch um den Unsinn von Verboten und eine einstmals rechte Prüderie, die Dehm, aber auch andere Anwesende, bei #MeToo wiedergefunden haben wollen; da klingt es dann beinahe wie die Performanzliberalen von der Welt (aber das würde er sicher nicht genau so sehen). Da ist aus dem Vortrag längst ein Gespräch geworden, ein durchaus überraschend freundliches.

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