Türkei und Syrien: Das Erdbeben traf nicht alle gleich

Die Mittel- und Oberschicht hat das Katastrophengebiet in der Türkei verlassen. Zurück bleiben die Mittellosen, darunter die Geflüchteten aus Syrien.

Menschen vor einem Zelt in einer städtischen Trümmerlandschaft

Aus Syrien geflüchtet, dann vom Beben heimgesucht: Fatma und Maher in der Türkei Foto: Karim El-Gawhary

ANTAKYA/KAHRAMANMARAş taz | Es riecht nach Zementstaub, dem typischen Geruch städtischer Zerstörung wie im Krieg oder eben nach einem Erdbeben. Ein Dutzend Bagger versucht in der Schuttwüste in der türkischen Stadt Antakya Ordnung zu schaffen, zwischen Beton, Stahl und persönlichen Erinnerungen vieler Menschen. Jemand hat eine zerbrochene Vitrine an den Straßenrand gestellt, darauf einzelne Fotos und ganze Alben – für den Fall, dass die Besitzer noch einmal vorbeikommen, wenn sie denn noch leben.

Manchmal zieht noch Leichengeruch über das Zeltlager in der Innenstadt Antakyas, jener Stadt mit einst über 300.000 Einwohner*innen, von der praktisch nichts mehr übrig ist. Es besteht aus rund vierzig Zelten, die vom türkischen Katastrophenschutz Afad aufgebaut wurden. Dutzende Familien warten apathisch vor ihren Zelten auf das, was dieser Tag bringen mag. Sie haben überlebt, auch wenn sie das oft nicht als Privileg betrachten.

Hier leben jene, die kein Geld haben, das Erdbebengebiet zu verlassen, Türkinnen und Türken und viele Flüchtlingsfamilien aus dem Nachbarland Syrien. Die Mittelklasse und die Oberschicht haben der Schuttwüste längst den Rücken gekehrt. Für die geschätzten 1,7 Millionen syrischen Flüchtlinge, die im türkischen Erdbebengebiet leben, ist die Lage besonders prekär. Meist haben sie nur einen temporären Schutzstatus, der ihnen normalerweise nicht erlaubt, ihre jeweilige Provinz zu verlassen.

Zwar hat die Regierung das Reiseverbot temporär aufgehoben – aber zunächst nur für 60 Tage. Die Direktive sorgt unter den Sy­re­r*in­nen für Unsicherheit, abgesehen davon, dass die meisten gar kein Geld haben, kurzzeitig woanders unterzukommen. Viele Flüchtlinge fürchten auch, dass die türkischen Behörden das Erdbeben als Vorwand nutzt, sie nach Syrien zurückzuschicken.

Die Todesurkunde in der Tasche

Es habe auch einen Vorteil, im Zelt zu leben, versucht die Syrerin Amara Haskira gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Als die Erde zwei Wochen nach der Katastrophe vom 6. Februar erneut bebte, hatte sie keine Angst, weil sie nur ein Zeltdach über dem Kopf hatte.

Doch die Reaktion ihrer Kinder zeigten, wie tief die seelischen Wunden sind. „Als es wieder losging, wollten die Kinder aus dem Zelt laufen. Ich habe sie an mich gedrückt wie eine Taube, die ihre Flügel über ihre Kinder legt. Die Kinder riefen: ‚Mama, die Erde wird unter uns aufreißen‘“, beschreibt Amara den Moment. Sie deutet auf ihren vielleicht sechsjährigen Sohn: „Schau, wie klein er ist, er schrie, er wolle endlich sterben. Was hat er erlebt, wenn ein Sechsjähriger sterben will? Meine Kinder haben in Syrien nur Krieg erfahren und jetzt das“, sagt Amara.

Neben ihr steht ein Mann, der sich als Firas Abu Jussuf vorstellt. Sein Arm ist in Gips geschient, die Schulter auf der anderen Seite in einer Schlaufe. Er wurde vor zwei Wochen aus den Trümmern seines Hauses geborgen. Firas zieht die Todesurkunde seiner achtjährigen Tochter aus der Tasche, ein leicht zerknülltes Papier, weil es so oft auf- und wieder zusammengefaltet wurde. Als Mitte Februar erneut die Erde bebte, dachte er nur: „Gott, bitte lass sie keine weitere Todesurkunde eines meiner Kinder ausstellen.“

„Wir sind wie Streuner“

Gut drei Autostunden von Antakya entfernt liegt die Stadt Kahramanmaraş, unweit des Epizentrums des ersten Bebens. Die Syrerin Fatma Talib ist auf dem Weg zur Moschee – einem der wenigen Gebäude, die noch intakt sind –, nicht um zu beten, sondern um im Vorhof zwei Plastikflaschen mit Wasser zu füllen. Fatmas neues Zuhause ist ein einsames Zelt mitten in einer Landschaft der Zerstörung, das ihr Freunde beschafft haben. Anders als die Menschen im Zeltlager von Antakya sind Fatma, ihr Mann und ihre fünf Kinder auf sich allein gestellt. Vielleicht, weil sie nicht wissen, wo sie sich Hilfe holen können, oder einfach, weil sie hier noch niemand abgeholt hat.

Fatmas Mann, Maher al-Schighri, hat vor dem Beben als Müllsammler gearbeitet und das, was andere wegwerfen, nach verkaufbarem Material durchsucht. „Die zwei größeren Kinder waren in der Schule“, betont er stolz. Die Reichen, die seien jetzt weg, geblieben seien nur die Armen. „In einem Leben im Zelt gibt es keine Würde. Wir leben auf der Straße, wir sind wie Streuner. Aber je stärker dein Glaube ist, umso mehr testet dich Gott“, sagt er, wohl auch, um sich selbst zu überzeugen.

Wie alle syrischen Flüchtlinge in der Türkei haben Fatma und Maher eine Odyssee hinter sich. Sie kommen ursprünglich aus der syrischen Hafenstadt Latakia. Während des Syrienkriegs wurden sie bereits dreimal innerhalb des Landes vertrieben. Dann kamen sie vier Jahre lang in einem Zeltlager in der türkischen Stadt Şanlıurfa unter. Dort gaben ihnen die Behörden vor neun Monaten umgerechnet ein paar Hundert Euro und baten sie, das Lager zu verlassen. Mit dem Geld mieteten sie sich in Kahramanmaraş eine Wohnung.

„Alles lief gut, wir dachten, wir beginnen endlich unser neues Leben, und jetzt das. Wir haben keine Zukunft. Selbst die Schule der Kinder ist zerstört“, sagt Fatma. Ihr Mann fasst die Misere zusammen: „Nicht nur meine Frau und ich, auch meine Kinder sind praktisch tot. Es ist aus.“ Brutaler kann man gefühlte Perspektivlosigkeit kaum ausdrücken.

Goldschmuck unter Trümmern

Ähnlich geht es Mustafa al-Scheich. Der Syrer wandert über einen Schutthaufen, der vom einstigen Leben seiner Familie übrigblieb. „Hier sind meine Mutter und mein Bruder gestorben, dort mein anderer Bruder, meine Schwägerin. Das war ihr Schlafzimmer.“ Von Betontrümmern und verbogenen Stahlträgern abgesehen ist nichts mehr zu erkennen. „Hier war das Kinderzimmer meiner Neffen und Nichten“, deutet er auf die andere Seite, „diese beiden konnten wir dort ausgraben.“ Ein vielleicht zwölfjähriger Junge, der neben ihm steht, nickt. Der andere, vielleicht Anfang 20, sitzt auf einem Betonblock, starrt auf sein einstiges Zuhause und sagt nichts.

15 Familienmitglieder hat Mustafa verloren, fünf konnten lebend geborgen werden. Er zieht sein Handy aus der Tasche und zeigt ein Video. Er und der etwa 20-jährige Neffe graben nur mit Schaufeln bewaffnet in den Trümmern. Vier Tage und vier Nächte haben sie das getan. Zwischendurch hätten sie zwischen den Betonblöcken mal ein, zwei Stunden geschlafen.

Seit die Familie ausgegraben ist, hat Mustafa ein anderes Problem: Unter dem Schutt liegt noch das Ersparte, vor allem der Goldschmuck seiner Mutter. Wegen der hohen Inflation in der Türkei haben viele ihr Erspartes in Gold angelegt oder in US-Dollar, die sie sicherheitshalber zu Hause aufbewahrt hatten – Erspartes, das die Menschen jetzt dringend brauchen, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Aber um Plünderungen auszuschließen, darf niemand ohne Einverständnis der Polizei buddeln. „Hier unten liegen unsere Wertgegenstände“, sagt Mustafa. „Aber wir können sie nur mit dem Einverständnis der Stadtverwaltung holen, nachdem wir bewiesen haben, dass das unser Haus ist. Der Mann vom Zivilschutz sagte, dafür muss ich mindestens zwei Wochen warten.“ Wenn die Bagger vorher kommen, um den Schutt wegzuräumen, müssen alle Wertgegenstände bei der Polizei abgegeben werden, mit genauer Angabe des Fundorts. „Wie soll ich dann beweisen, dass das Gold oder Geld mir gehört?“, fragt Mustafa, „ich habe noch nicht einmal einen Ausweis.“ Den wiederzubekommen, ist allerdings möglich. Die türkischen Behörden registrieren die Fingerabdrücke ihrer Bürger und auch der syrischen Flüchtlinge.

Mustafa hält inne und zeigt auf seinem Handy eine Diashow seiner Familie, die er auf Tiktok gespeichert hat. Unterlegt mit Koranrezitationen, wird ein Porträt nach dem anderen abgespielt. Es sind so viele Gefühle auf einmal. Trauer um die fünfzehn toten Familienmitglieder, der Versuch, die materiellen Dinge zu retten, Erinnerungen im Haus. Wie geht es jetzt weiter? „Könntest du“, stellt er eine Gegenfrage, „in so einer Situation irgendeinen klaren Gedanken über deine Zukunft fassen?“

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