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Das Beben und die Folgen

Für den türkischen Präsidenten Erdoğan scheint die Kontrolle der Lage wichtiger zu sein als schnelle Hilfe. Geht mit dem Erdbeben auch seine Ära zu Ende?

Von Wolf Wittenfeld

Eine Woche nach der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien wird allmählich klar, welche Dimension das Desaster hat. Hatte man am Montag unmittelbar nach den ersten Erschütterungen noch geglaubt, es mit einem der örtlich begrenzten Beben zu tun zu haben, wie sie in der Türkei häufig vorkommen, musste spätestens Montagmittag, als es erneut mit einer Stärke von 7,6 bebte, klar gewesen sein, dass etwas Außergewöhnliches passiert war.

Doch die Reaktion des staatlichen türkischen Katastrophenschutzes AFAD entsprach dem Jahrhundertbeben in keiner Weise. Viel zu langsam kamen die Rettungsarbeiten in Gang, viel zu wenig professionelle Helfer mit dem notwendigen Gerät waren vor Ort, um Verschüttete aus den Trümmern zu retten. Insbesondere die Größe des betroffenen Gebietes – die Bruchkante des Bebens war 350 km lang – führte dazu, dass an vielen Orten bis zuletzt kaum das notwendige Personal angekommen war.

Nach knapp einer Woche werden weitere Rettungen immer unwahrscheinlicher. Die letzten Verschütteten wurden am Freitag 100 Stunden nach dem Beben noch lebend geborgen. Mehr als 20.000 Tote sind bestätigt, weitere zehntausende Menschen liegen noch unter den Trümmern begraben. Experten schätzen, dass allein in der Türkei mindestens 60.000 Menschen getötet wurden. Es können aber auch sehr viel mehr sein, die Regierung gibt keine offiziellen Vermisstenzahlen an.

Die Zahlen aus Syrien sind noch unvollständiger, aber auch dort dürften mehrere zehntausend Menschen durch das Beben getötet worden sein – auch weil noch weniger Rettungsmaßnahmen vorhanden waren. Rund hunderttausend Menschen in der Türkei wurden verletzt, viele konnten nicht adäquat versorgt werden. Noch immer sind nicht für alle Menschen, die durch das Beben obdachlos wurden, Ersatzunterkünfte geschaffen worden, tagelang mussten die Erdbebenopfer auf der Straße um ihr Überleben kämpfen.

Die Regierung und Präsident Erdoğan persönlich behaupten nun, das Beben sei ein Schicksalsschlag gewesen, Gottes Wille sozusagen; dagegen habe man nicht ankommen können. Wer die Regierung kritisiere, sagte Erdoğan bei einem Auftritt im Katastrophengebiet, sei ein „Unruhestifter und Provokateur“, der bestraft werden müsse. Insgesamt 37 Kritiker, die sich in den Sozialen Medien darüber beschwert hatten, dass der Staat die Opfer alleinlässt, sind bereits festgenommen worden. Erdoğans Polemik richtete sich auch an Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu, der der Regierung bei einem Besuch des Erdbebengebietes und erschüttert von der Situation vor Ort schlimmes Versagen vorgeworfen hatte. Kılıçdaroğlu ließ sich von Erdoğan aber nicht einschüchtern, sondern legte zwei Tage später noch einmal nach und machte einen internen Bericht des Katastrophenschutzes AFAD öffentlich, in dem dieser bereits im Herbst 2022 festgestellt hatte, dass sie auf ein großes Beben gar nicht vorbereitet seien. „Was hat die Regierung mit diesem Bericht gemacht?“, fragte Kılıçdaroğlu, „haben sie nicht zugehört?“ Sowohl Kılıçdaroğlu für die CHP wie auch die kurdisch-linke HDP kritisieren außerdem, dass eigene Rettungsinitiativen, insbesondere in den Städten, in denen sie den Bürgermeister stellen, von der Regierung eher behindert als befördert worden seien.

Erdoğan, klagt die HDP, gehe es mehr um Kontrolle als Hilfe. Dazu passt, dass der Präsident zwar keine Unterstützung im großen Stil organisierte, beispielsweise durch die Armee, aber bereits am Dienstag den Ausnahmezustand für die gesamte Region verkündete, den das Parlament zwei Tage später schnell bestätigte. Dadurch lässt sich die Deutungshoheit über das Geschehen vor Ort besser kontrollieren.

Mittlerweile sind in der türkischen Erdbebenregion, auch dank der großen internationalen Hilfe, viele Zeltstädte und auch einige Zeltlazarette aufgebaut worden. Anders in Syrien, wo insbesondere in der von islamistischen Aufständischen kontrollierten Region Idlib kaum Hilfe angekommen ist, weder aus den von Diktator Assad kontrollierten Gebieten noch aus dem Ausland. Zwar konnten die ersten wenigen LKWs über den einzigen offenen Grenzübergang aus der Türkei am Donnerstag einige wenige Decken und anderes Material herüber bringen, aber überlebensnotwendiges Essen, Medikamente und Bergungsgerät fehlen immer noch. Entsprechende Vorwürfe machte jetzt die letzte aktive zivile Rettungsorganisation in Idlib, die Weißhelme, der Internationalen Gemeinschaft. Über ein Video appellierte ihr Sprecher Raed Al-Saleh an die bei der UN akkreditierten Journalisten in Genf und rief dazu auf, dass jetzt, da die UN offenbar unfähig oder unwillig sei, zu helfen, andere Organisationen einspringen müssen.

Auch auf der türkischen Seite der Grenze zur Region Idlib, in Hatay und deren Hauptstadt Antakya, sah es mit Hilfe bis zuletzt schlecht aus. Über der Stadt liegt ein stechender Verwesungsgeruch, einige der wenigen Retter vor Ort nutzen bereits Gasmasken. Die Stadt ist in den letzten Jahren auf bis zu 400.000 Bewohner stark gewachsen, weil viele syrische Flüchtlinge über die nahe Grenze gekommen waren. Nun sind hier fast alle Häuser zerstört.

In Adana, einer Millionenmetropole, die rund 120 km von Antakya entfernt liegt und als Logistikzentrum für den Nachschub von Katastrophenhelfern dient, traf die taz eine Gruppe freiwilliger Helfer, die gerade aus Hatay zurückgekommen waren. Die jungen Männer, die aus Istanbul stammen, sind erschöpft und deprimiert. „Ich war erst 15 Minuten dort und habe schon angefangen zu weinen, dabei hatte ich zu dem Zeitpunkt noch gar keinen Toten gesehen“, erzählt Burak, einer der Helfer. Sie bestätigen, dass Antakya völlig zerstört ist. „Die Stadt sieht aus, als sei ein Ungeheuer mit einer Abrissbirne durchgezogen“, sagt ein anderer der freiwilligen Helfer. Dennoch wollen die Männer bald wieder zurück, denn immer noch sind viel zu wenige professionelle Bergungstrupps vor Ort. „Wir haben zwar nur wenige Hilfsmittel, aber ich denke, dass wir trotzdem etwas bewirken können“, hofft Burak.

Obwohl in Adana nur wenige Schäden sichtbar sind, starben auch hier 168 Menschen und 4.000 wurden verletzt. Auch in Adana schlafen viele noch in ihren Autos, weil sie Angst vor weiteren Nachbeben haben. In der ganzen Stadt wird über nichts anderes als das Beben geredet. Die meisten stehen unter Schock. Ein Händler sagt: „Jetzt sind schon über 20.000 Menschen tot geborgen. Was passiert jetzt?“

In Istanbul und Ankara haben die Debatten über die Konsequenzen des Bebens und die unzulängliche Reaktion der Regierung begonnen. Im Mai ist die wohl seit Jahrzehnten wichtigste Präsidenten- und Parlamentswahl geplant. Doch nun ist unklar, ob die Wahl im Mai überhaupt wie geplant stattfinden kann. Im Moment ist es schwer vorstellbar, dass in der riesigen Katastrophenzone, die sich über zehn Provinzen erstreckt, innerhalb von drei Monaten überhaupt die technischen Voraussetzungen geschaffen werden können, dass dort gewählt werden kann. Außerdem wird der für drei Monate erklärte Ausnahmezustand in diesen Provinzen, der erst eine Woche vor dem geplanten Wahltermin am 14. Mai endet, es der Opposition kaum erlauben, dort für sich zu werben.

Erdoğan reagiert auch deswegen so harsch auf Kritiker, weil er Angst hat, dass sein Katastrophenmanagement ihm bei der Wahl auf die Füße fallen könnte. Diese Angst ist berechtigt, denn die unzulänglichen Maßnahmen nach dem schlimmen Erdbeben 1999, nur 80 km von Istanbul entfernt, war ein wesentlicher Grund, warum seine AKP bei den Wahlen 2002 haushoch gegen die damals amtierende Regierung gewann. Auch der Leitartikler der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet erinnerte an das Beben von 1999: „Sie kamen durch ein Beben an die Macht, sie werden durch ein Erdbeben gehen“.

Mitarbeit: Kim Heine

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