Porträt des Stegreiforchesters: Vibrationen hautnah spüren

Musiker und Instrumente sind in Bewegung beim Stegreiforchester. Ihre Aufführungspraxis verändert die Wahrnehmung klassischer Musik.

Orchestermusiker in schwarzen Hosen und roten shirts spiegeln sich auf einer dunklen Fläche

Das Stegreiforchester 2021 bei einer Bearbeitung von Beethovens „Ode an die Freude“ Foto: Navina Neuschl

Gesang und Orchesterklänge füllen die Nachtluft. MusikerInnen in lang wallenden Gewändern stapfen prozessionsartig durch das feuchte Gras eines Friedhofs, umgeben von neugierigen Zuschauenden. Plötzlich beginnt das Ensemble zu rennen, bremst abrupt ab, verharrt für einen Augenblick und gibt sich erneut den Wellen der Musik hin. Einzelne lösen sich aus dem Pulk, finden sich zu neuen Gruppen zusammen und setzen ihren Gang gemeinsam fort. Musik wird sichtbar durch Bewegung.

Diese ungewöhnliche Freiluft-Interpretation von Mozarts „Don Giovanni“ ist noch bis Herbst diesen Jahres in der ARD-Mediathek zu sehen. Dahinter steht eine Kooperation der Neuköllner Oper mit dem Stegreif-Orchester, ein Ensemble mit einem Faible für im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Konzerterlebnisse.

Einer internen Legende zufolge wurde die Idee dazu geboren, als Stegreifs Gründer, Hornist Juri De Marco, zum ersten Mal professionelle Erfahrung bei einem Berufsorchester sammelte: Eines Tages sollte er während einer Tutti-Probe einen kniffligen Einsatz gemeinsam mit der Trompete spielen.

Doch der Kollege saß so weit weg, dass er ihn nicht sehen konnte. Um in der entscheidenden Zehntelsekunde wenigstens ein bisschen Augenkontakt zu haben, tat er, was ihm logisch erschien: Er stand auf und ging ein paar Schritte in Richtung Trompetenpult. Verärgert winkte der ­Maestro ab: „Was machen Sie da? Sie können hier doch nicht einfach so rumlaufen!“ „Warum eigentlich nicht?“, fragte sich Juri. Die Idee für Stegreif war geboren – ein Orchester, das sich gemeinsam mit seinem ­Publikum frei durch den Raum bewegt.

Verbundenheit suchen

Mit diesem Konzept bespielt Stegreif seit 2015 vom Fusion-Festival bis zur Berliner Philharmonie Bühnen in ganz Deutschland und lädt die Menschen ein, Teil des Geschehens zu werden. Sie können frei entscheiden, ob sie der Musik lieber aus sicherem Abstand begegnen oder die Vibrationen der Instrumente hautnah spüren möchten.

Premiere „#bechange: Thinking“ im Kulturpalast Dresden. Rekomposition, Klangperformance und Improvisation auf der Grundlage der Musik von Clara Schumann am 12. 2. 2023

Eine Jazz-Barock-Fusion auf der Grundlage von Werken Georg Friedrich Händels. Am 25. 2. bei den Händel-Festspielen Karlsruhe

In der ARD-Mediathek: „Mozart · Giovanni. Eine Passion · Performance · STEGREIF.orchester · Juri de Marco · rbb“. Bis 7. 10. 2023

Den MusikerInnen wiederum erlaubt diese Bewegungsfreiheit, stärker miteinander in Kontakt zu treten. „Wir suchen Verbundenheit. Alles, was uns dabei stört, räumen wir radikal aus dem Weg“, sagt Lorenz Blaumer, derzeit bei Stegreif stellvertretender künstlerischer Leiter und Geiger.

Diesem Wunsch nach Wandel musste auch der Posten des Dirigenten weichen. Wo in herkömmlichen Orchestern meistens ein Mann in Frack entscheidet, was wann und wie gespielt wird, liegt bei Stegreif die Verantwortung auf den Schultern des Ensembles. Weil auswendig gespielt wird, muss jeder mit seiner Aufmerksamkeit stets zu hundert Prozent bei seinen MitspielerInnen sein.

Das klassische Repertoire ist der Ausgangspunkt

Gerade bei komplexen sinfonischen Werken ist diese musikalische Selbstverwaltung ein echtes Wagnis. Doch Lorenz Blaumer ist überzeugt: „Ohne das Risiko zu scheitern, wird’s höchstens mittelmäßig.“

Risikofreude ist die Devise – auch beim Umgang mit der sogenannten Werktreue. Das Erbe berühmter Klassik-Giganten wie Ludwig van Beethoven oder Gustav Mahler mischen die Stegreifs gerne mit neuen Harmonien, Rhythmen und freier Improvisation auf. Darf man mit Beethoven einfach so herumexperimentieren? Projektleiter und Pressereferent Immanuel De Gilde sieht keinen Grund für Berührungsängste: „Wir fühlen uns dem klassischen Repertoire verpflichtet. Aber es ist für uns eben nur Ausgangspunkt, nicht Gesetz. Stegreif erforscht Möglichkeiten, das gängige Repertoire neu zu erfahren.“

In ihrer Konzertreihe „bechange“ erweitert Stegreif den üblichen Kanon bekannter männlicher Tonschöpfer und setzt sich bewusst mit dem Schaffen von vier Komponistinnen auseinander: Hildegard von Bingen, Wilhelmine von Bayreuth, Emilie Mayer und Clara Schumann. Clara Schumanns Zeit war geprägt von gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen: Sie erlebte, wie die Industrialisierung die Produktionsbedingungen auf den Kopf stellte und wie das Paulskirchenparlament von 1848 die erste deutsche Verfassung wagte.

In einer großen kreativen Versuchsanordnung werden am 12. Februar im Kulturpalast Dresden ihre Tagebucheinträge neben Zitate von KlimaaktivistInnen gestellt und mit Rekompositionen von Schumanns Klavierkonzerten und Liedern verwoben. Globale Krisen werden so vielleicht nicht gelöst, aber zumindest in neue, sinnliche Denkanstöße übersetzt.

Verletzliche Mischung

Auch hinter der Bühne setzt das Ensemble auf Veränderung und entwickelt seine Formate in einem kollektiven Schaffensprozess. Die Führungsverantwortung für einzelne Proben wandert von einem Orchestermitglied zum nächsten – jeder, der will, kann seine Ideen beisteuern und Entscheidungen per Veto blockieren. Natürlich kostet dieses soziokratische Aushandeln mehr Energie als die klassische Top-Down-Hierarchie. Violinistin und Stegreif-Gründungsmitglied Anne-Sophie Bereuter bestätigt: „Es fordert von einem, mit mehr Lebendigkeit, mehr Fokus und mehr Ideen präsent zu sein.“

Doch darin liegt ein besonderer Reiz, findet sie: „Diese Art der Zusammenarbeit ist sehr viel reicher und bunter.“ Weil die verletzliche Mischung aus Rekomposition, Improvisation und Bewegung eine besondere Sensibilität füreinander verlangt, übt sich Stegreif in achtsamer Arbeitskultur. Regelmäßige Feedbackrunden und Schweigeminuten, in denen alle frische Konzentration sammeln können, sind feste Rituale. „Diese Regeln sind dazu gedacht, Raum zu schaffen, für leise Stimmen – musikalisch wie gesellschaftlich“, meint Lorenz Blaumer.

Trotz allem Idealismus stößt sich auch Stegreif oft genug an den scharfen Kanten der Bürokratie: Gut 30 Prozent von Lorenz Blaumers Arbeitszeit geht für das Beantragen von Fördergeldern drauf. Eine staatliche Basisförderung, die vielen Ensembles der freien Szene das Überleben sichert, fehlt. „Langsam tut das weh“, meint Blaumer. „Wir können unseren Musikern nicht genug zahlen.“ Trotzdem blickt er optimistisch in die Zukunft, denn bisher ist der Terminkalender gut gefüllt.

Wo er das Orchester in zehn Jahren sieht? „In zehn Jahren sind wir wahrscheinlich immer noch auf der Suche.“

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