Musiker Coby Sey aus London: Geschichte in einer Zeitkapsel
Kontraste und Widersprüche: Der Elektronikproduzent Coby Sey verbindet Rapreime und Dubästhetiken in der Echokammer zu etwas Neuem.
Am 13. August 1977 wollten 500 Anhänger:innen der britischen Neonazi-Organisation National Front durch den Südlondoner Stadtteil Lewisham marschieren. Über 4.000 Menschen – Weiße und Schwarze Jugendliche, antirassistische Gruppen – stellten sich ihnen in den Weg. Zuerst mit Sitzblockaden, die von der Polizei geräumt wurden, dann flogen Steine, Flaschen und Brandsätze – und die Neonazis mussten nach einigen Straßenzügen aufgeben. Von dieser Niederlage sollte sich die National Front nie erholen.
Auch in der Musik von Coby Sey hallt das „Battle of Lewisham“ nach. „The thread is both seen and felt“ – die Verbindung ist sicht- und fühlbar, rappt der Musiker aus Südlondon auf „Onus“, einem Stück seines Debütalbums „Conduit“. Zeile um Zeile meditiert er darin über Vernachlässigungen, ökonomischen Druck und Unsicherheit, um als Schlussfolgerung die gegenseitige Hilfe und Solidarität zur Notwendigkeit zu erklären: „We need to support each other, I notice.“ Darunter wiederholt ein gedämpfter Piano-Loop ein minimalistisches Motiv, bis Seys Gesang schließlich von widerhallenden Stimmfetzen überdeckt wird.
Immer wieder bricht die Geschichte Südlondons in den Songs von Coby Sey hervor. In den sechziger Jahren sind seine Großeltern aus Ghana nach London gekommen, wo er selbst in den nuller Jahren aufgewachsen ist. Es war die große Zeit von Grime und Dubstep, und der akustische Soundclash zwischen den hyperaktiven Beats des britischen HipHop-Dialekts Grime und den schleppenden, musikgeschichtsversunkenen Hallfahnen von Dubstep.
Coby Sey: „Conduit“ (AD93).
Musik dieser beiden Genres ist die perfekte Begleitmusik zur Topografie des Londoner Südens, in dem klaustrophobisch eng gebaute Sozialbauten und Wohnsilos ebenso ihren Platz haben wie endlos scheinende viktorianische Reihenhauszeilen, die in ihrer Monotonie nicht weniger einengend wirken.
Die Musik Coby Seys lebt von solchen Kontrasten und Widersprüchlichkeiten: Der Künstler erzählt vom hedonistischen Traum, im Hier und Jetzt zu leben, und begräbt diese Erzählung unter verzerrten Aggro-Beats und nervenzerrenden Synthesizerklängen. Er schildert, wie er sich in Konflikten behaupten will, weil Differenzen nun einmal nicht begraben werden sollten, und lässt dazu einen Beat spielen, der seinen Worten den konfrontativen Affekt nimmt.
Abgeschaut hat Coby Sey sich diese Widersprüchlichkeiten bei einigen seiner Lieblingsmusiker:innen, die er jeden Monat in einer Sendung für den Londoner Musik-Internetradiosender NTS vorstellt. Von der Shoegaze-Band My Bloody Valentine lernt er, wie man eine Liebeserklärung unter Schichten von Feedback und Krach vergräbt und sie somit erst recht von Herzen kommen lässt. TripHop-Pionier Tricky hat ihm wiederum beigebracht, wie sich Frustration, Wut und Niedergeschlagenheit in gespenstischen Sound verpacken lassen, der zugleich therapeutisch beruhigend wirkt. Und bei Grime-MC Kano hat sich Coby Sey abgeschaut, wie man unterschiedliche Gefühle Schwarzer Identität in Reime verpackt, für die Deepness und ein kochender Dancefloor kein Widerspruch sind. Von all dem finden sich Spuren in seiner Musik, die ebenso Zeitzeugnis wie Zeitkapsel ist.
Wie angenehm verwirrend diese Mischung geraten kann, zeigen Coby Seys unausrechenbare Liveauftritte. Vor wenigen Wochen in Köln war die Bühne verdunkelt, Sey kauerte kaum sichtbar am Bühnenrand und murmelte seine Texte in ein Mikrofon. Um ihn herum überboten sich Bass, Schlagzeug und Saxofon in Kaskaden aus improvisiertem Krach und unterkühlten Basslines, die immer Platz für Seys nach innen gerichtete Stimme machten.
Nach 40 Minuten war Schluss, keine Zugabe, nichts. „Hast du das verstanden?“, fragte mich ein Freund am Ende des Auftritts. Ich schüttelte den Kopf. Verstanden nicht, aber gefühlt.
Coby Sey ist am 2. Februar beim CTM-Festival im Berghain, Berlin, live zu erleben.
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