Neuer Roman von Joshua Cohen: Netanjahus Theater
Der unterhaltsame Roman „Die Netanjahus“ von Joshua Cohen tut weh. Er spielt in der jüdischen Diaspora im New York der 1950er Jahre.
„Löscht die Diaspora aus, oder die Diaspora wird euch auslöschen.“ Diese markigen Worte des ukrainischen Zionisten Wladimir Zeev Jabotinsky stellt Joshua Cohen seinem neuen Roman voran. Darin erzählt der US-amerikanische Schriftsteller eine Episode aus dem Leben von Benzion Netanjahu, dem Vater des rechtsnationalen israelischen Ministerpräsidenten. Der lehrte als Historiker Ende der 50er Jahre für einige Zeit an der New Yorker Cornell-Universität.
Der berühmte Literaturkritiker und Shakespeare-Forscher Harold Bloom hatte Cohen kurz vor seinem Tod davon berichtet, so erfährt man im Epilog des Romans. Wie nah sich Bloom und Netanjahu damals gekommen sind, ist nicht übertragen.
Der Ich-Erzähler in Cohens Roman trägt den Namen Ruben Blum – und jede:r darf sich selbst einen Reim darauf machen, wie viel Bloom in Blum steckt. Darum geht es hier aber gar nicht. „Die Netanjahus“ ist eine ebenso witzige wie deprimierende Erzählung darüber, was es heißt, als Jude in der (amerikanischen) Diaspora zu leben.
Aufwühlende Beschwörung
Es ist eine zutiefst traurige und aufwühlende Beschwörung der jüdischen Geschichte, ein kluger und bissiger Kommentar auf den Zionismus und seine Wurzeln, eine hellsichtige Analyse der Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Israel und nicht zuletzt ein spektakulär unterhaltsamer Campusroman. Im vergangenen Jahr wurde das Buch mit dem National Jewish Book Award und dem Pulitzerpreis 2022 ausgezeichnet.
Joshua Cohen: „Die Netanjahus“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2023, 288 Seiten, 25 Euro
Joshua Cohen ist das Wunderkind der amerikanischen Literatur. Keins seiner Bücher gleicht dem anderen. Zahlreiche Essays, sechs Romane und vier Erzählbände bilden das bisherige Werk des 1980 in New Jersey geborenen Schriftstellers. Darin finden sich so schräge Erzählungen wie die eines Geigenvirtuosen, der sein Publikum in der Carnegie Hall in eine bittersüße Geiselhaft nimmt, um stundenlang die tragische Geschichte des ungarisch-jüdischen Komponisten zu erzählen („Solo für Schneidermann“). Oder die Doppelgängergeschichte über einen gescheiterten Autor namens Joshua Cohen, der zum Ghostwriter eines gleichnamigen unsympathischen Internetmilliardärs wird („Buch der Zahlen“).
Nicht zuletzt sein Holocaustroman „Witz“, in dem „die Unbegreifbarkeit des Holocaust“ in ein kaum verständliches literarisches Programm überführt wird, wie es der Übersetzer Ulrich Blumenbach im vergangenen Jahr der taz erklärte.
Bevor die titelgebenden Netanjahus in Cohens neuem Roman erstmals auftreten, ist schon mehr als die Hälfte der Geschichte erzählt. Dabei lernen wir jenen Blum kennen, der als Kind ukrainisch-jüdischer Einwanderer in der Bronx aufwächst. Es ist eine Kindheit zwischen Anpassung und Tradition, „zwischen dem amerikanischen Zustand des Wählenkönnens und dem jüdischen Zustand des Erwähltseins“.
Blum interessiert sich für Literatur, studiert dann aber doch lieber Geschichte und Wirtschaftswissenschaften. Später wird er „der erste Jude“ am fiktiven Corbin-College, wo er als Experte für „Steuergeschichte“ forscht und unterrichtet.
Kränkungen und Herablassungen
Das Erwähltsein wird Blum im Amerika der 50er Jahre ständig unter die Nase gerieben. Kleine Kränkungen und Herablassungen – alle „nicht so ernst gemeint, haha“ – begegnen ihm immer wieder. Der Golfclub will die Mitgliedsanträge nicht finden, Monteure machen sich über seinen Geiz lustig, und Blums Kollegium bittet ihn, Heiligabend den Nikolaus zu mimen, damit „die Menschen, die das Fest tatsächlich feiern, sich umso unbeschwerter amüsieren“.
Dabei wollen Ruben, Edith und Judith Blum eine ganz normale amerikanische Familie sein. Am meisten ist Tochter Judith von ihrem jüdischen Erbe genervt. Ausgestattet mit „Tante Zeldas Nase“, die ihr „zu lang, zu groß, zu höckerig“ ist, versucht sie, mit Salben, Cremes und Nasenklammer gegen das entlarvende Körperteil vorzugehen. Als nichts hilft, greift sie zu rabiaten Mitteln.
Bei einem Besuch ihrer Großeltern positioniert sie sich hinter einer Tür und tut so, als sei sie eingesperrt. Als ihr Großvater sich mit aller Kraft gegen die Tür wirft, fliegt die mit derartiger Wucht in ihr Gesicht, dass statt einer kosmetischen Nasenkorrektur „eine komplette Wiederherstellung“ notwendig ist.
Weil das Jüdischsein an den Blums dennoch klebt wie Kaugummi am Schuh, kommt es zu jenem „nebensächlichen und letztlich sogar unbedeutenden Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“, von dem im Untertitel des Romans die Rede ist. Die Uni erwägt, Benzion Netanjahu den historischen Lehrstuhl anzuvertrauen. Ruben soll als einziger Jude im Lehrkörper die Auswahlkommission unterstützen und Netanjahu vor Ort betreuen.
Netanjahu befasst sich mit der Geschichte der iberischen Juden im Mittelalter. Also macht sich Blum mit seinem Werk vertraut, studiert Empfehlungsschreiben und entsetzte Briefe. Kurzum: Er schleicht „auf dem geistigen Dachboden eines obskuren israelischen Akademikers“ herum, der nicht nur in seinen Augen die jüdischen Traumata „in Propaganda“ verwandelt.
Das alles hinterlässt einen ziemlich schrägen Eindruck von Netanjahu, der erst in der zweiten Hälfte des Romans seinen großen Auftritt hat. In einem verbeulten Ford fährt er mit „de ganze Mischpoche“ an einem Januartag 1960 vor. Kaum hält das Auto, springen seine drei Kinder Jonathan, Benjamin und Iddo aufgekratzt durch den Schnee, um dann klitschnass das Wohnzimmer der Blums zu stürmen und über Tische und Bänke zu gehen.
Dem nicht genug, aromatisiert der jüngste mit seiner vollen Windel das ganze Haus, während sich seine Eltern herrlich über Gott und die Welt streiten. Bald bekommen auch die Genitalien der jungen Netanjahus ihren Auftritt, als Mutter Zila vor aller Augen Iddo auf dem Serviertisch wickelt.
Burleske Satire
Die „Yahoos“, wie sie Blum bald nennt, kommen als jüdisches Klischee daher: laut, streitlustig und selbstbezogen. Diese Rolle nimmt Benzion auch bei seinen Auftritten an der Uni ein. Cohen inszeniert das unheimlich geschickt. Einerseits als burleske Satire, in der ein abgehalfterter Professor den ahnungslosen Idioten dieser Welt die Leviten liest. Andererseits als radikalphilosophische Versuchsanordnung, für die ein manischer Professor (und Blums launiger Vater) erst das Hohelied des Zionismus und dann das Kaddisch auf die jüdische Diaspora singt.
In der mitreißend pointierten und furchtlosen Übersetzung von Ingo Herzke wird Cohens Können sichtbar. Der deutsche Text bildet die jiddische Wortakrobatik nach, mit der Cohen der amerikanisch-jüdischen Wirklichkeit so umwerfend komische Szenen abringt, dass einem die Tränen kommen. Entschlossen geht er auch immer wieder dorthin, wo es weh tut. Ansatzlos kippt sein Humor in die Abgründe von Antisemitismus und Holocaust – geradezu „cohenesk“.
Als Rubens Tochter Judith in einem Essay für die Uni argumentiert, dass Fairness wichtiger sei als familiäre Verbindungen, entbrennt darum eine Diskussion. In der ergreift Blums Vater das Wort und sagt: „Judele, wenn morgen der Ku-Klux-Klan hier einreitet mit Gewehren, was würdest du tun? Dich mitten auf die Evergreen Street stellen und nach Fairness schreien? Nein. Du wirst zu Menschen rennen, die dir helfen. Du wirst zu Menschen rennen, denen du vertrauen kannst. Zu anderen Juden, zu deiner Familie.“
So leichtfüßig und souverän spielen nur wenige mit den historischen Katastrophen der Juden und ihrer ambivalenten Gegenwart. „Die Netanjahus“ ist ein Meisterwerk, auf einer Höhe mit Vladimir Nabokovs „Pnin“ und „Sabbaths Theater“ von Philip Roth.
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