Sturm auf Kongress in Brasilien: Verpatzter Putsch

Nach dem Sturm auf den Kongress in Brasilien gehören die Teilnehmer vor Gericht. Dabei geht es nicht um Vergeltung, sondern um Demokratie.

Menschen in einem zertörten Raum

Angriff auf die Demokratie: das Kongressgebäude in Brasilia am 9. Januar 2023 Foto: Adriano Machado/rtr

In einem politischen Umfeld, das bereits für die brasilianische Demokratie vermint ist, sind die Fragen im Moment vielfältig, aber eine davon sticht klar heraus: Werden all diese Leute, die in Brasília an den gewalttätigen Unruhen beteiligt gewesen sind, und diejenigen, die sie gesponsert haben, zur Verantwortung gezogen? Wird es eine gerichtliche Verfolgung geben? Von der Antwort hängt die Zukunft Brasiliens ab.

Millionen Brasilianer haben ganz offensichtlich die schwierige Zeit der Militärdiktatur vergessen und sehnen sich nach einer Rückkehr des Militärs an die Macht. Dieser Eindruck entsteht bei den Demonstrationen und den landesweiten Lagern vor Militärstützpunkten. Nicht zuletzt hatte Präsident Jair Bolsonaro einen erheblichen Anteil der Kabinettssitze an Offiziere vergeben, für die er unverhohlenen Respekt empfindet.

In einer beispiellosen Initiative sammelte eine Gruppe, die sich selbst den Namen „Gegen den Putsch“ gab, in den sozialen Medien binnen eines Tages über eine Million Klicks. Follower identifizierten anhand von Fotografien zahlreiche Täter, die an der Stürmung des Kongresses beteiligt waren. Auch brasilianische Zeitungen bemühten sich um eine gemeinsame Suche nach den gewalttätigen Unruhestiftern im Regierungsviertel.

Die Rädelsführer kommen offenbar aus einem rechtsextremistischen Milieu, sind weiße Menschen, die der Mittelklasse angehören. In Brasilien sind über die Hälfte der Bevölkerung Schwarze Menschen. Wenn von Armut die Rede ist, geht es nahezu ausschließlich um PoC. Gerade sie machen indes nur einen kleinen Teil der Verdächtigen aus, die die Polizei inzwischen identifizieren konnte.

Politisches Fußball-Shirt

Viele trugen T-Shirts der brasilianischen Fußballmannschaft, Kleidung in den Farben der brasilianischen Flagge oder sie hüllten sich gleich in die Flagge ein. Sie nennen sich Patrioten und treten offen für einen Militärputsch ein, um die Regierung des neu vereidigten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Arbeiterpartei (PT) zu stürzen. Zahlreiche Militärs auch in höheren Rängen solidarisierten sich bereits öffentlich mit dem Protest gegen Lula.

Der Politikwissenschaftler Rafael Cortez von dem Beratungsunternehmen Tendencias in São Paulo rechnet mit massivem öffentlichem Druck für eine gerichtliche Verfolgung der Unruhestifter. Die Räumung der Camps, die seit drei Monaten vor den Militärstützpunkten stehen, ist ein wesentlicher Schritt in die richtige Richtung, auch wenn es noch immer an verschiedenen Orten im Land zu gewaltsamen Demonstrationen kommt.

Cortez erkennt jedoch eine Dezentralisierung der Proteste und generell eine Verringerung der organisierten Aktionen. Mit der ohnehin tiefen sozialen Ungleichheit ist Brasilien mit einem weiteren ideologisch-politischen Problem konfrontiert. Die Diskussion zieht sich durch Institutionen bis hin auf die Straße. Sie bestimmt entscheidend den alltäglichen Diskurs, wobei die große Zahl von Waffen in den Händen von Zivilisten besonders problematisch ist.

Die Zahl der Gewalttaten war während des Wahlkampfs im letzten Jahr erneut gestiegen. Ungeachtet der zahlreichen Verhafteten und des großen Drucks weiter Teile der Bevölkerung, die Übeltäter vor Gericht zu bringen, kommt es landesweit immer wieder zu Protestaktionen von Anhängern Bolsonaros. Parallelen zu der Kapi­tol­erstürmung in Washington vor zwei Jahren liegen auf der Hand.

Überwiegend Sachschaden

Doch das offensichtliche Déjà-vue sollte nicht den Blick dafür trüben, dass es auch klare Unterschiede gibt. So fand der Sturm auf das Kapitol vor der Vereidigung von Joe Biden als US-Präsident statt, wohingegen die Amtsübergabe am Neujahrstag an Lula da Silva friedlich ablief und er bereits brasilianischer Präsident war, bevor die Aktion begann. Im Unterschied zu Trump verurteilte Bolsonaro die Gewalt, wobei er wie Trump die Wahl seines Nachfolgers nicht anerkennen wollte.

Die Unruhen im brasilianischen Regierungsviertel fanden an einem Sonntag statt, als die Büros leer waren. Außer dass einige Journalisten leichte Verletzungen davontrugen, kam niemand zu Schaden. Dementgegen starben in Washington fünf Menschen, Hunderte wurden verletzt. Im Unisono verurteilten zahlreiche Staaten den Angriff der Bolsonaro-Anhänger auf das Kongressebäude, auf den Präsidentenpalast und den Obersten Gerichtshof.

Die ausdrückliche internationale Solidarität mit der demokratisch gewählten Regierung Lula da Silvas ist ein wichtiges Signal an die Antidemokraten in Brasilien. Immer lauter wird der Ruf auch von US-Kongressabgeordneten zur Solidarität mit den Wählern Lula da Silvas. Konkret geht es um die Auslieferung von Jair Bolsonaro, der sich seit dem 31. Dezember in Florida aufhält.

Gegen den früheren Präsidenten läuft ein Ermittlungsverfahren des obersten Gerichts wegen gezielter Verbreitung von Falschinformationen und schweren Verfehlungen während der Coronapandemie. Bolsonaro dürften keine leichten Zeiten bevorstehen. Ebenso verzog sich Anderson Gustavo Torres nach Florida, nachdem die Regierung einen Haftbefehl gegen ihn ausstellte.

Bolsonaros Ex-Justizminister war unmittelbar nach den Unruhen aus seinem Amt als Sicherheitschef des Bundesbezirks Brasília entlassen worden. Auch er sollte zeitnah ausgeliefert und vor Gericht gestellt werden. Lula da Silva zeigt sich unterdessen zunehmend von der menschlichen Seite und gibt sich spirituell zugänglich, was einen großen Teil der sehr gläubigen brasilianischen Bevölkerung anspricht.

Mit seinen zahlreichen neuen Ministerien zielt er auch auf die Stärkung der pluralistischen brasilianischen Gesellschaft. Längst überfällig war etwa das Ministerium für indigene Völker. Brasilien ist ein Land der Unterschiede, in dem die gegenseitige Verständigung zentral sein sollte. Die Verfolgung der Straftäter sollte nicht als Vergeltung definiert werden, sondern als notwendige Maßnahme für den Erhalt von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist freie Journalistin und Künstlerin für mobile digitale Fotografie. Nach jahrelanger Kor­res­pon­den­t*in­nen­tä­tig­keit im Nahen Osten und in Russland pendelt sie aktuell zwischen Deutschland und Brasilien.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.