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Aus der Ukraine kommen täglich neun Züge in Záhony an Foto: Florian Bachmeier

Ukrainer flüchten nach UngarnNächste Ankunft 2.46 Uhr

Aus dem Krieg über die Grenze in die ungarische Kleinstadt Záhony. Hier bekommen Flüchtlinge Essen und Obdach. Denn in Záhony geht es menschlich zu.

A m Morgen melden die Nachrichten, in Odessa sei der Strom flächendeckend ausgefallen. Russische Drohnen haben das ukrainische Energienetz angegriffen. In Záhony fällt der erste Schnee des Jahres vom Himmel. Es sind kleine harte Flocken, die auf der Haut wehtun.

Der Bürgermeister zieht sich seine schwarze Mütze tiefer ins Gesicht. „Bald werden wieder mehr Geflüchtete kommen.“ Die Mitarbeitenden der Internationalen Organisation für Migration (IOM) treffen sich und beraten darüber, die Schichten neu einzuteilen. Es werden demnächst mehr Leute benötigt. Als um 15.30 Uhr der nächste Zug aus der Ukraine am Bahnhof einrollt, sind 174 Passagiere an Bord. Die Helfenden am Bahnhof holen noch mehr Plastiktüten mit Wasserflaschen und Lebensmitteln aus dem Lager.

Záhony ist eine Stadt im äußersten Nordosten Ungarns. Nicht weit entfernt von der ungarisch reformierten Kirche fließt die Theiß, und auf der anderen Seite des Flusses liegt schon die Ukraine. Die gemeinsame Grenze der beiden Länder ist nicht sonderlich lang, knapp 140 Kilometer. Es existieren fünf Grenzübergänge, aber nur in Záhony können Reisende die Grenze mit dem Zug überqueren.

Záhony ist während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu einem Dreh- und Angelpunkt der Flucht geworden. Die ungarischen Grenzen sind sonst eher für elektrisch gesicherte Stacheldrahtzäune und bewaffnete Grenzbeamte bekannt. Die Politik der Migrationsverhinderung nach Europa ist zum Kernprogramm des ungarischen Premierministers Viktor Orbán geworden. In Záhony aber hat sich zehn Monate nach Kriegsbeginn eine freundliche Routine etabliert. Die Menschen haben Erfahrung im Helfen. Sie tun es mit Gelassenheit und Ruhe. Manchmal scheint es sogar, als habe die kleine Stadt die neue Aufgabe gebraucht, um daran zu wachsen.

Neun Züge täglich

Neun Züge aus der Ukraine kommen täglich in Záhony an. Sie kommen aus Tschop auf der anderen Flussseite. Nur 20 Minuten Fahrt und doch gefühlt eine weite Reise. Als der Nachmittagszug zum Halten gekommen ist, stellen sich die Helfenden mitten auf das Gelände, breitbeinig, unübersehbar. Die Passagiere tröpfeln aus der Bahn heraus. Vor dem Aussteigen prüft die ungarische Grenzpolizei alle Pässe. Mehr nicht. Die Einreise ist derzeit ohne Visum möglich.

Die Menschen klettern die steilen Zugtreppen hinunter, hieven Gepäck und Kinder hinaus, blicken sich suchend um. Die Bahnhofsangestellten verweisen gleich auf die Helfer und Helferinnen. Wann fährt der Zug nach Budapest? Und wie geht’s dann weiter nach Wien? Eine Frau sagt, sie habe Fieber und Halsschmerzen. Sie wird in das Behandlungszimmer des Roten Kreuzes gebracht.

Anmol Gupta. Der Inder studierte in Charkiw und hilft nun anderen Flüchtlingen Foto: Florian Bachmeier

Auf dem Bahnsteig steht auch ein Helfer, der vom Zugpersonal mit Handschlag begrüßt wird. Eine alte Frau legt ihm ein Stück Konfekt in die Hand. Er bedankt sich mit einer Umarmung. Der Mann heißt Anmol Gupta, indischer Medizinstudent aus der ostukrainischen Stadt Charkiw. Er ist in Záhony gestrandet. Aber er fühlt sich ganz wohl dabei.

Anmol Gupta kam vor neun Jahren aus dem nordindischen Roorkee zum Studium nach Charkiw. Im Februar fehlten ihm noch sechs Monate bis zum Abschluss. Als der Krieg ausbrach, half er seinen Nachbarn, die Keller als Schutzräume herzurichten. Das Helfen fühlte sich besser an als das Ausharren in der unterirdischen Metrostation. Als eine Rakete vor seinem Wohnhaus einschlug, floh Gupta und fuhr mit dem Zug über Lwiw nach Záhony. „Ich hatte keine Ahnung, wo ich gelandet war.“

Viele Menschen aus der Stadt haben gemeinsam angepackt, das hat uns einander nähergebracht

Agnesa Zeplaki, Rentnerin aus Záhony. Sie empfängt die Flüchtlinge am Bahnhof

Anmol Gupta, angehender Herzchirurg, kam am 5. März in Záhony an und beschloss zu bleiben. Er sagt, die Menschen in Záhony hätten ihm geholfen, als er müde und verängstigt war. Sie gaben ihm zunächst etwas zu essen, Wärme und Freundlichkeit, dann eine Unterkunft. Er versucht nun das Gleiche zu tun und den Geflüchteten die Ankunft im Nachbarland zu erleichtern.

660.000 Ukrainer und Ukrainerinnen sind seit Kriegsausbruch über die Grenze bei Záhony gekommen. Die Einwohner sagen, Anmol Gupta habe sie fast alle persönlich gesehen. Sie sagen, er sei der gute Geist des Bahnhofs. Der Kühlschrank im Aufenthaltscontainer der IOM ist voll. Frauen aus der Stadt bringen Anmol Gupta regelmäßig Essen vorbei.

Er müsste eigentlich nach Charkiw fahren, seine Zeugnisse abholen. Aber wer weiß schon, ob die medizinische Fakultät überhaupt noch steht. Wer weiß, ob noch jemand von den Lehrenden dort ist. „Ich habe keinen Plan“, sagt Anmol Gupta. Er lernt jetzt Ungarisch. Der Putzmann im Bahnhof unterrichtet ihn nebenbei.

Záhony hat schon einmal bessere Zeiten gesehen. Im Verladebahnhof, in der die Spurbreite der Züge vom ungarischen auf das ukrainische Schienensystem umgestellt wird, arbeiteten in den 1980er Jahren 8.000 Menschen. Jetzt hat die Stadt selbst noch gut 4.000 Einwohner. Davon sind 1.300 Rentner und nur noch 300 Kinder. Es gibt drei Kirchen, eine Schule, ein Hotel, ein Restaurant und eine Bar, die Pepe heißt, mit Billard, Darts und Jägermeister.

Agnesa Zeplaki beim Blutspenden. Die Rentnerin hilft im Bahnhof den Ankommenden Foto: Florian Bachmeier

Eigentlich war Záhony eine Stadt, die langsam von der Landkarte verschwand. Bis der Krieg ausbrach.

Menschen, die helfen

Da kamen gleich am ersten Tag Tausende Ukrai­ne­r*in­nen am Bahnhof an, drängten sich an den Schaltern, saßen erschöpft auf dem Vorplatz. Um ein Uhr am Mittag postete der Bürgermeister auf Facebook einen Hilferuf an die Einwohner seiner Stadt. Fünf Stunden später war das Kulturhaus zur Notunterkunft umgerüstet. Die Männer und Frauen aus Záhony hatten Matratzen, Laken und Decken gebracht.

An diesem ersten Kriegstag ging auch Agnesa Zeplaki sofort zum Bahnhof, als sie von den vielen Geflüchteten hörte. „Nichts auf der Welt hätte mich davon abhalten können.“

Agnesa Zeplaki, 60 Jahre alt, war Anfang des Jahres gerade in Rente gegangen. Bis dahin hatte sie die Bankfiliale in Záhony geleitet. Zeplaki sitzt außerdem im siebenköpfigen Stadtrat von Záhony. Das Helfen ist für sie auch eine Pflicht. „Ich möchte mit gutem Beispiel vorangehen.“

Agnesa Zeplaki teilt die freiwilligen Helfer der Stadt ein. Am Anfang hatte sie über 200 Personen auf ihrer Liste, die sich gemeldet hatten. Sie kamen überall her. Aus der Schule, aus der Bank, aus dem Supermarkt. Bis heute schließt Zeplaki jeden Morgen den Container vor dem Bahnhof auf. Sie lässt die Rollläden hoch, stellt die Kessel mit Heißwasser und Tee an und sterilisiert die Tische.

Der Inder Anmol Gupta kam im März aus Charkiw. Er sagt, die Menschen in Záhony hätten ihm geholfen, als er müde und ver­ängstigt war. Er versucht nun Gleiches zu tun

Sie teilt jetzt noch zwanzig Helfende ein, hauptsächlich Frauen aus der Stadt. Das genügt momentan. Die Hilfe ist zur Routine geworden. Das Gefühl aus den Anfangstagen ist aber immer noch da. „Viele Menschen aus der Stadt haben gemeinsam angepackt, das hat uns einander nähergebracht“, sagt sie.

Wenn Agnesa Zeplaki in diesen Tagen durch die Fenster des Containers in Richtung Bahnhof schaut, sieht sie die Flocken, die inzwischen auf eine geschlossene Schneedecke fallen. Auch sie hat gehört, was die Ankommenden am Bahnhof erzählen. Dass es selbst in Tschop, so weit im Westen der Ukraine, nur wenige Stunden am Tag Strom gibt. Zeplaki seufzt. „Und in dieser Situation werden Kinder geboren. Unvorstellbar.“ Bald wird sie vielleicht wieder mehr Helfende von ihrer Liste benötigen.

Vor dem Rathaus von Záhony blinken weiß-blaue Lichterketten, ein luftgefüllter Schneemann wälzt sich im Schnee. Gut 200 Menschen stehen im Dunkel des späten Nachmittags auf dem Platz und hören zu, wie die Kinder der Kita Lieder singen. Die Kita-Leiterin und der katholische Pfarrer sprechen ein Gebet, danach gibt es Glühwein und ein paar kurze Gespräche, bei denen der Atem in Wolken davonfliegt.

Der Bürgermeister von Záhony ist auch da. Aber er spricht an diesem Nachmittag nicht in das Mikrofon. Er wippt auf den Füßen, um sich warm zu halten, und lächelt still in sich hinein.

Der Bürgermeister von Záhony

Seit acht Jahren ist László Helmeczi Bürgermeister von Záhony. Als er sich für das Amt bewarb, nahm er sich vor, wieder mehr Leben in die ruhige Stadt zu bringen. Für große Baumaßnahmen, sagt Helmeczi, fehle das Geld in der Stadtkasse. Aber eine Gemeinschaft könne er auch ohne viel Geld aufbauen.

László Helmeczi möchte gern, dass wieder mehr junge Leute in Záhony wohnen. Er sagt, er würde gern Konzerte planen und Bildungsprogramme auflegen, statt sich um den Zustand des Friedhofs zu kümmern.

Die Menschen in Záhony sprechen sehr gut vom Bürgermeister. Der indische Medizinstudent Anmol Gupta sagt: „Er ist unvoreingenommen und in vielerlei Hinsicht ein weiser Mann.“ Die Stadträtin Agnesa Zeplaki: „Die Stadt ist seine Familie. Er tut alles für sie.“ Ein IOM-Mitarbeiter: „Er schafft es, in einer Krise die Balance zu halten. Wenn er auftaucht, wird alles gut.“

László Helmeczi ist sehr oft am Bahnhof. Und wenn er dort ist, trägt er Frauen den Koffer und sammelt Müll auf, der vor dem Mülleimer liegt. Er sagt: „Helfen ist einfach menschlich.“

Ungarns Reaktion auf die Fluchtbewegungen im vergangenen Jahrzehnt waren zwiespältig. Als im Jahr 2015 Menschen aus Syrien, Iran und Afghanistan kamen, schwadronierte Regierungschef Viktor Orbán in Budapest von einer „gelenkten illegalen Migration“, die die Eliten des Westens angezettelt hätten. Im Ukrainekrieg gibt sich die Regierung offener. Die Schutzsuchenden aus dem Nachbarland reisen von Záhony aus mit dem sogenannten Solidaritätsticket mit der Bahn kostenlos weiter.

Den eigenen Weg gehen

László Helmeczi sagt, er interessiere sich nicht für die Politik in Budapest. Er und die sechs anderen Mitglieder des Stadtrates gehören keiner Partei an. Bei der vergangenen Parlamentswahl im April 2022 wählten in der Region etwa 70 Prozent der Bevölkerung die Orbán-Partei Fides. In Záhony selbst waren es 40 Prozent. Laszlo Helmeczi erzählt davon mit Stolz. „Wir gehen unseren eigenen Weg.“

Helmeczi besucht an diesem Abend die Notunterkunft für Geflüchtete in Záhony. Inzwischen ist eine ehemalige Grundschule dafür hergerichtet worden. 20 Jahre stand das Gebäude leer. Nun werden dort diejenigen untergebracht, die so spät am Abend ankommen, dass kein Zug mehr fährt. Einige bleiben länger.

László Helmeczi leert die Schale unter einem tropfenden Heizungsrohr, prüft die Essensvorräte im Kühlschrank. Einiges hat sich verändert in Záhony, seitdem das Helfen zum Alltag geworden ist. „Wir passen besser aufeinander auf.“ Außerdem gibt es zwölf neue Kinder im Kindergarten und 17 in der Schule.

Spät am Abend verlässt Agnesa Zeplaki den Container vor dem Bahnhof. Alles ist schon vorbereitet für den nächsten Tag. Im Container bleibt Anmol Gupta zurück. Er schläft nur selten in der Wohnung, die ihm die Stadt zur Verfügung stellt. Stattdessen rückt er zwei Campingstühle zusammen, legt sich auf die beiden Sitzflächen und breitet eine Decke über sich aus.

Um 2.46 Uhr kommt der nächste Zug aus Tschop. Dann wird Anmol Gupta am Gleis stehen und helfen.

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1 Kommentar

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  • Sorry, aber ich kann diesen Lobesartikel, der wie ein Märchen der Nächstenliebe inszeniert ist, nicht verstehen.



    Ich kann einfach niemand Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit anerkennen, der aber genau dies, anderen Menschen, die in gleicher oder schlimmerer Not sind, aus rassistischen Gründen verweigert!



    Genau, wie auch Polen. Der Beigeschmack ist zu bitter.



    Wahre Menschlichkeit gilt allen Menschen, auch Muslimen! Hier wird über das gleiche Land geschrieben, dass muslimische Kriegsflüchtlinge in Gefängnissen wegsperrt und prügelt, weil sie geflohen sind.