Lernort für Gestaltung

Das Werkbundarchiv schlägt Alarm, es soll aus seinen Ausstellungs-, Archiv- und Büroräumen in der Oranien­straße 25 vertrieben werden. Es ist ein wichtiger Ort für die Geschichte von Design, Architektur und Moderne

Das Werkbundarchiv – Museum der Dinge wollte ohnehin 2027 in die Karl-Marx-Allee umziehen Foto: Museum der Dinge

Von Renata Stih

Und wieder wird ein Stück Berliner Stadtgeschichte durch gierige Spekulanten zerstört, diesmal ein Kultur- und Kreativ­standort in der Oranienstraße 25 in Kreuzberg. Der Immobilienfonds Victoria Immo Properties V S.ar.l., eine Briefkastenfirma in Luxemburg, deren anonyme Spekulanten noch nicht identifiziert werden konnten, ist seit zwei Jahren Besitzer dieser Immobilie und steckt hinter der Kündigung der dortigen Mietparteien.

Wer sind diese Leute, die sich hinter Anwälten verstecken? Illusorische Quadratmeterpreise werden verlangt, durch Entmietung gewachsene Strukturen zerstört. Dieser Fall zeigt besonders deutlich: Wir brauchen neue Gewerbe-Mietgesetze zum Schutz des sozial-kulturellen städtischen Raums und umgehend einen Mietdeckel für Gewerbebauten in Berlin!

Einer der Mieter in der Oranienstraße 25 ist das einzigartige Werkbundarchiv – Museum der Dinge, eine vereinsgetragene Institution, die vom Land Berlin gefördert wird. Dieses „Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts“ beinhaltet eine weitläufige Sammlung von alltäglichen Dingen wie von anspruchsvollem Design, das wie ein offenes Archiv aufgebaut ist, zudem eine umfangreiche ­Bibliothek und Materialsammlung, die Forschenden zur Verfügung steht; sie dient zudem als Lernort, insbesondere für ein jüngeres Publikum. Das Programm ist insgesamt bildungs- und gesellschaftspolitisch ausgerichtet und bezieht auch Schulen, besonders aus dem Kreuzberger Umraum, mit ein.

Durch die überraschende Kündigung sind die für die kommenden Jahre geplanten und zum Teil schon begonnenen Ausstellungsprojekte, Veranstaltungen und Kooperationen mit anderen Institutionen gefährdet. Mit der plötzlichen Kündigung der Räume hatte man nicht gerechnet und wollte ohnehin 2027 in den eigens für das Werkbundarchiv geplanten Pavillon an der Karl-Marx-Allee in Mitte umziehen.Nach einer bezahlbaren, kuratorisch vertretbaren Interimslösung wird verzweifelt gesucht; nach Aussage der leitenden Kuratorin, Renate Flagmeier, gibt es Solidaritätsbekundungen von allen Seiten, auch der Kultursenat engagiert sich, denn es ist gar nicht so einfach, mit Tausenden von Büchern, Dokumenten und ­empfindlichen Gegenständen umzuziehen.

Vor dem weltberühmten Bauhaus war der Werkbund

Dabei hat das Werkbundarchiv im Laufe der Jahre bereits eine lange Odyssee in Berlin hinter sich gebracht, zog von einem Ort zum anderen – von der Schloßstraße in den Gropius Bau, war dann von 2002 bis 2007 heimatlos und experimentierte währenddessen mit neuen Präsentationsformen als eine Art nomadisches Museum, organisierte Ausstellungen in anderen Museen, bis man 2007, mit Hilfe des Senats, in der Oranienstraße ansässig wurde.

Jedes Mal war der Umzug mit einem riesigen menschlichen Kraftakt und hohen Unkosten verbunden und trotzdem gelang es immer wieder, durch interaktive Ausstellungen zur Geschichte der Gegenstände und bezogen auf aktuelle Themen ein großes Publikum zu faszinieren.

Das Berliner Werkbundarchiv ist zwar eine 1972 in Westberlin gegründete Einrichtung, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert, aber sie hat eine viel längere Tradition, denn vor dem weltberühmten Bauhaus war der Werkbund: Der wirtschaftlich und kulturell ausgerichtete „Deutsche Werkbund e. V.“ wurde bereits am 6. Oktober 1907 als „Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen“ auf Anregung des Architekten und Designers Henry van de Velde, des Kulturtheoretikers und Architekten Hermann Muthesius und des Heilbronner Politikers Friedrich Naumann in München gegründet und setzte neue Standards – er ist heute bundesweit verbreitet. 1977 gelangte der wissenschaftliche Nachlass des Werkbund-Gründers, Hermann Muthesius ins Berliner Werkbundarchiv. Seitdem kann man dort nachvollziehen, wie man durch Adaption der Reformbewegung des sogenannten englischen Arts and Crafts Movements den Alltag in Deutschland neu gestalten wollte.

Die Modernisierung der Gegenstände war eine demokratische, sozial gedachte Bewegung aus England, die Ende des 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent großen Anklang fand und sich schnell verbreitete. Die Mitglieder des Werkbunds übernahmen die Kernsätze und sagten den hausbackenen, düster-pompösen ornamentbeladenen Wohnungen der Kaiserzeit den Kampf an: Eine neue Warenästhetik sollte die kunstgewerbliche Indus­trieproduktion reformieren, es sollte auf Qualität geachtet werden, die Verwendung von Materialien neu überdacht, bewertet und in eine neue, sachliche Formensprache übersetzt werden. Das neue Bauen sollte Licht und Luft in die Architektur bringen, damit das alltägliche Leben, auch Hygiene und Gesundheit verbessern.

Im Werkbundarchiv – Museum der Dinge kann man Dingpflegerin werden Foto: Museum der Dinge

Der Außenraum in Großstädten sowie der private Innenraum veränderten sich. Jetzt wollte man modern sein, es wurde elektrifiziert, man fuhr mit Bahnen, es entstanden öffentliche Begegnungsstätten, Sportstadien. Möbel wurden kleiner und leichter, sogar stapelbar. Es gab Freizeit, Menschen trugen am Sonntag legere Kleidung, Frauen warfen ihr Korsett ab und zogen einfache Reformkleider an, schnitten sich die Haare ab, fingen an zu arbeiten und ihr eigenes Geld zu verdienen, durften inzwischen auch wählen.

Aus dem Werkbund entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg das Konzept des 1918 von Walter Gropius gegründeten Bauhauses, das an den Standorten in Weimar, Dessau und Berlin eine prägnante Formensprache entwickelte, die bis heute global nachwirkt. Das kann man gut im Berliner Bauhaus-Archiv am Landwehrkanal nachvollziehen, das noch von Gropius konzipiert wurde und derzeit einen Erweiterungsbau erhält. Heute ist Berlin insgesamt eine Metropole des Designs, die Institutionen ergänzen sich, das Werkbundarchiv ist ein wichtiger Teil davon, so wie das Kunstgewerbemuseum am Kulturforum in Tiergarten mit Außenstelle in Schloss Köpenick und die Sammlungen des Bröhan Museums in Charlottenburg. Sie basieren auf Sammelleidenschaft und dokumentieren, wie sich der Mensch über Gegenstände definiert und im Raum positioniert.

Ein erklärtes Ziel des Werkbunds war die Demokratisierung der Kunst und der Gegenstände, damit diejenigen, die diese Gegenstände produzierten, sie sich auch leisten konnten. Dazu passt ein Aufruf des Werkbundarchivs: „Werden Sie Dingpflegerin und Dingpfleger – unterstützen Sie mit Ihrer Spende die Arbeit des Museums und nehmen Sie sich eines der Museumsdinge besonders an.“ Und besuchen Sie es in der Oranienstraße 25!

Werkbundarchiv – Museum der Dinge: Do.–Mo., 12–19 Uhr