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Straßenszene im Regen auf dem Weg zur U-Bahn-Station in Kyjiw Foto: Polina Fedorenko

Stimmen aus der Ukraine„Frieden klingt so verlockend“

Was bedeutet Frieden für Menschen im Krieg? Drei Ukrai­ne­r:in­nen erzählen von friedlichen Momenten, von Bitterkeit und einem anderen Weihnachtsfest.

A ls der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile Soziologie. Polina Fedorenko kommt aus Kyjiw, sie war zwischenzeitlich in Lwiw, lebt aber jetzt wieder in ihrer Heimatstadt. Sie bestückt im Rahmen eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen News­ticker mit Meldungen aus dem Krieg.

Frieden bedeutet Freiheit

Ich werde nie in der Lage sein, in einem Café zu sitzen und Kakao zu trinken und nicht daran zu denken, dass all das nicht existieren würde, wenn wir, die Menschen in der Ukraine, nicht zusammenhielten und uns gegenseitig unterstützen würden – moralisch, physisch, finanziell.

Für mich wird es niemals Frieden geben, wenn wir von Russland eingenommen, also gefangen genommen würden. In Gefangenschaft könnte ich nicht existieren: Ohne meine Identität als ukrainische Frau, ohne unsere schönen Städte, in denen mir alles vertraut ist und alle wissen, wer Taras Schewtschenko ist, unser Nationaldichter.

Frieden gibt es nicht ohne Freiheit.

Und nicht ohne Erinnerung an die Gefallenen.

Friedliche Momente, an die ich mich erinnere

2019 war ich mit einer Gruppe von Leuten, mit denen ich damals studierte, am Ufer des Schwarzen Meeres in der Region Cherson. Wir hatten ein Zelt dabei, aber im letzten Moment entschieden wir uns, im Schlafsack am Strand zu übernachten. Das Wasser war etwa einen halben Meter entfernt und wir vier schliefen beim Rauschen der Meeresbrandung unter dem Sternenhimmel ein. Am nächsten Morgen wachten wir im Morgengrauen auf und tanzten. Es gab viele Marienkäfer. Der Sonnenaufgang war unglaublich.

Es gibt noch eine zweite Erinnerung. Sie kommt, glaube ich, aus dem Januar 2020, kurz vor der Pandemie. Ich wollte gerade von der Uni nach Hause gehen, die Vorlesungen endeten gegen 18 Uhr und es war schon dunkel, da entdeckte ich einen Straßenmusiker. Es regnete, die Lichter des Riesenrads spiegelten sich auf dem nassen Platz. Ich beschloss, zur weiter entfernten Metrostation zu spazieren, die sich direkt neben der Seilbahn befindet. Die Lichter der Restaurants glitzerten auf dem Asphalt. Ich hatte das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.

Ich hoffe, dass es an Weihnachten noch schneien wird und die Russen am Feiertag nicht auf uns schießen

Nachdem bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert worden war, blieb ich sechs Monate zu Hause und sah meine Freunde nicht. Nach ihrer Operation besuchte ich für ein paar Tage eine Freundin in Dnipro. Mir ging es emotional sehr schlecht; ich konnte kaum mein Studium bewältigen, alles war schwierig. Meine Freundin und ich liefen mit einem Drachen am Strand des Kanals entlang, die Sonne schien. Olya war in diesem Moment so schön, und plötzlich konnte ich tiefer atmen und leichter.

Lichterspiel beim Riesenrad nahe der Universität in Kyjiw Foto: Polina Fedorenko

Eines Tages, es war schon Krieg, wurde das Licht ausgeschaltet, und Yarik, mein sechsjähriger Bruder, wurde krank und ging nicht zur Schule. Er lief in der Wohnung herum und rief: „Mir ist langweilig.“ Ich gab ihm einen alten analogen Fotoapparat, den mein Vater einst gekauft hatte.

Für Yarik war der Umgang mit der Kamera schwer. Langsam verstand er, wie der manuelle Fokus funktioniert und wie genau er den Knopf drücken muss. Ich beobachtete ihn, wie er die Wohnung durch die Linse neu entdeckte, und lächelte ihn an. Es war dunkel auf der Straße, denn nach dem russischen Beschuss haben wir oft lange Zeit kein Licht. Aber neben ihm fühlte ich mich ruhig.

Orte der Ruhe

Meine Wohnung in Lwiw. Mit meinen engen Freunden kuscheln.

Mein Bett in der Wohnung meiner Eltern, wenn Yarik morgens vor dem Frühstück zu mir kommt und sich zu mir legt.

Und jemandes Hand in meiner Hand zu halten. Sei es die große von Papa, wenn er beim Autofahren zu schluchzen anfängt und dann sagt, dass es in Ordnung ist. Sei es die geschwollene Hand meiner Mutter, die ich die ganze Zeit nicht losgelassen habe, als sie noch im Krankenhaus lag. Sei es die von Yarik, klein und warm, wir nennen ihn scherzhaft „unser lokales Heizkraftwerk“. Sei es die von Olya, die mich so festhält, als würde ich fallen, wenn sie mich loslässt. Oder die von Iryna, die meine Hand so leicht hält und immer irgendwohin führt.

Auch wenn die Katzen um mich sind, werde ich ruhig. Selbst wenn Cora Schaden anrichtet und die Vorhänge hochklettert. Es ist unmöglich, in der Nähe von Sara und Cora nicht ruhig zu sein.

Und die U-Bahn. Immer noch die U-Bahn. Dort bin ich am sichersten. Dort ist es warm für mich. Dort gibt es immer etwas Neues, ein paar ungewöhnliche Leute, und es ist interessant, zu raten, wohin sie gehen und wer sie sind. Dort kann man immer in ein Buch eintauchen, und dann existiert die Welt nicht mehr.

Weihnachten

Normalerweise geht unsere Familie an Weihnachten zu meiner Großmutter väterlicherseits. Meine Familie ist nicht religiös, also gibt es bei uns nicht all die traditionellen Gerichte wie das süße Kutia etwa, aber diese Zeit des Jahres ist interessant, weil wir alle zusammenkommen.

In guten Jahren, wenn es kein Covid gibt, fliegt meine Tante Katya zu Weihnachten aus den USA zu uns, und wir verbringen ein paar Tage zusammen im Haus meiner Großmutter. Letztes Jahr war ich mit einem Studentenprojekt zu Weihnachten in Odessa, und wir haben Krippen für das Militär gebaut. Damals habe ich viele neue Weihnachtslieder gelernt.

Dieses Jahr wird Weihnachten anders sein. Erstens, weil meine Mutter im Dezember gestorben ist und wir sie am Tisch sehr vermissen werden. Zweitens versucht die Ukraine, vom gregorianischen auf den julianischen Kalender umzustellen, und deshalb wird Weihnachten dieses Jahr noch vor Silvester begangen.

Ich denke, dass das diesjährige Weihnachtsfest so aussehen wird: Am 24. Dezember morgens werden ich, Papa und Yarik unsere Sachen ins Auto packen und zu Oma fahren. Sonya, meine Schwester, wird sich weigern mitzufahren, weil sie allein in der Wohnung bleiben will. Sie wird sich um unsere Katzen kümmern.

Oma wird Yarik und mich küssen, Yarik wird losrennen, um alle Katzen von Oma zu küssen, und die Katzen werden sich vor ihm verstecken.

Wir werden eine weite Strecke zum Supermarkt zurücklegen und müde heimkehren. Ich hoffe, dass es an Weihnachten noch schneien wird und die Russen am Feiertag nicht auf uns schießen.

Später werden Großmutters Schwester und ihr Mann kommen. Papa wird grillen, Yarik wird sich einen Weihnachtsfilm ansehen, ich werde mit Großmutter und Großtante Salate zubereiten und mir ihre Lektionen über das Leben anhören.

Wir werden uns an den Tisch setzen. Ein Stuhl wird leer sein, weil Mama gestorben ist. Diese Erkenntnis wird über uns hängen und uns alle schmerzen. Ich hoffe, ich kann an diesem Tag stark sein.

***

Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger bei der humanitären Organisation Rescue Now UA und hilft bei Evakuierungen in und um Charkiw, seine Heimatstadt. Georgy Zeykov war vor dem Krieg Unternehmer, er entwarf Mode und Accessoires. Er beschreibt sich selbst als „Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig war.

Meine Heimatstadt Charkiw, die Stadt, in der ich 35 Jahre lang gelebt habe, strahlt nicht. Unbeleuchtete Laternen säumen eine leere Straße. Dazwischen sind Cafés, die vor dem russischen Überfall ihre Weihnachtsdekoration noch nicht abgebaut hatten und nach dem 24. Februar, dem Tag der Invasion, nie wieder öffneten. Der Anblick ist mehr als trist. Die Schneeflocken aus Papier sind von den Schaufenstern gefallen, die Girlanden hängen herunter oder sind mit Spinnweben bedeckt. Eine dünne Staubschicht überzieht sie.

Stromausfall, kein adventliches Stillleben Foto: Kateryna Smirnowa

Es gab eine Zeit, in der Charkiw strahlte. Vor einem Jahr war Charkiw mit zwei Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Nun leben noch 800.000 Menschen hier. Als am 12. September 2008 die Band Queen auf dem Freiheitsplatz in Charkiw spielte, kamen 350.000 Menschen. Heute bräuchte es noch etwas mehr als zwei mit Menschen gefüllte Freiheitsplätze für alle Einwohner:innen. Warum hänge ich so sehr an Zahlen? Weil ich möchte, dass Du meinen Schmerz verstehst.

Eine Stadt ist nicht ein Ensemble aus Kästen aus Beton, eine Stadt lebt von den Menschen, die dort wohnen. Es sind noch Menschen hier. Aber die Stadt ist zu groß für sie. Trotz der 800.000 Be­woh­ne­r:in­nen erscheint Charkiw mitunter wie ausgestorben.

Es ist mehr als schwierig an einem Ort zu leben, der nur 26 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist. Russland, dieses Nachbarland, das jeden Tag Raketen und iranische Kamikaze-Drohnen abschießt. Ständige Bombardierungen kritischer Infrastrukturen, Strom-, Internet-, Handy-, Wasser- und Heizungsausfälle sind für Zi­vi­lis­t:in­nen mittlerweile zu einem normalen, aber nicht weniger dramatischen Problem geworden. Aber selbst in solchen Zeiten gibt es Raum für Neujahrsstimmung.

Am 19. Dezember haben wir in Charkiw den Weihnachtsbaum der Stadt eingeweiht. Für die Bür­ge­r:in­nen war die Einweihung des Baumes auf dem Freiheitsplatz seit jeher ein wichtiges Ereignis, denn die Aufstellung markiert neben aller Symbolik auch den Beginn der Jahresend- und Neujahrsfeierlichkeiten. In den vergangenen Jahren wurden auf dem Freiheitsplatz zusätzlich ein kleiner Vergnügungspark, eine Eisbahn und ein Jahrmarkt eröffnet – ein ganzer Komplex von Unterhaltungsmöglichkeiten. Dieses Jahr finden die Feierlichkeiten unterirdisch statt. Der Weihnachtsbaum steht nicht auf dem Freiheitsplatz, sondern unter der Erde, in der U-Bahn-Station.

Ich stehe auf der letzten Stufe der Treppe, die zum Bahnsteig der U-Bahn führt. Von dort aus habe ich einen Blick auf ebenjenen unterirdischen Weihnachtsbaum, der in normalen Zeiten über der Erde stehen würde. Es fällt mir schwer Worte zu finden für das, was ich sehe. Irgendwo in meinem Hinterkopf versuche ich mir einzureden, dass ich das hier mag und dass es keinen anderen Weg gibt. Aber ich kann mir doch nichts vormachen. Man hat mir und den Menschen in meiner Stadt die Möglichkeit genommen hat, unsere Traditionen friedlich zu begehen.

Ich sehe mir die weihnachtliche Installation in der U-Bahn immer wieder an. Sie ist nicht schlecht gemacht. Wer auch immer das konstruiert und aufgebaut hat, hat sein Bestes versucht.

An den Säulen des Bahnhofs hängen Lichterketten. Metallkonstruktionen wurden mit kerzenförmigen Glühbirnen dekoriert; zweckentfremdet bilden sie nun das Gerüst für die Weihnachtsbeleuchtung. Fast könnte man meinen, man befände sich in einer Gasse. Es gibt auch ein Nikolaushaus und einen Briefkasten für die Wunschzettel der Kinder. Da wir Weihnachten eigentlich am 6. Januar feierten, ist der Weihnachtsbaum auch unser Symbol des neuen Jahres. Er ist mit Girlanden und weißen, perlenartigen Kugeln geschmückt und sticht mir besonders ins Auge. Er ist ungefähr fünf Meter hoch. Neben der weihnachtlich geschmückten Tanne steht eine große Uhr, ebenfalls in Weihnachtsbaumform. Jemand hat eine rote Mütze auf ihre tannenförmige Spitze gesetzt. Ich lächle traurig.

Ich möchte meine Erinnerungen an das weihnachtliche Charkiw nicht mit der Erinnerung an eine weihnachtliche U-Bahn überspielen

Früher sind viele Leute zur Einweihung des Weihnachtsbaumes gekommen, heute ist der Bahnhof kaum besucht. Die meisten von ihnen warten auf ihren Zug.

Ich ertrage die Stimmung in der U-Bahn dann doch nicht. Meine Brust krampft sich zusammen und meine Beine führen mich zum Ausgang. Nein, es ist keine Panikattacke. Ich will einfach nur weg. Ich möchte nicht, dass sich das Bild dieses unterirdischen Weihnachtsbaumes in meine Netzhaut einbrennt und ich es nicht mehr loswerde. Ich möchte meine Erinnerungen an das weihnachtliche Charkiw nicht mit der Erinnerung an eine weihnachtliche U-Bahn überspielen. Es gilt, in meinen Erinnerungen eine Welt zu schützen, die es nicht mehr geben wird.

Wenn wir gewinnen, wird das alles durch etwas Neues ersetzt. Das Neue wird auf seine Art vermutlich gut sein und einen Hauch von Freiheit und Leidenschaft mit sich bringen. Vielleicht bringt es auch Hoffnung. Aber nicht in diesem Moment. In diesem Moment möchte ich gehen. Ich fühle mich wie ein Außenseiter bei dieser Feier, mit der Bürde von jemandem, der weiß, wie es früher war und wie es sein sollte.

Am oberen Ende der Treppe drehe ich mich um und sehe mir den unterirdischen Weihnachtsbaum ein letztes Mal an. Putin ist zu allem Überfluss der, der uns Weihnachten stahl. Wenn alles vorbei ist, wird man ihn als den wahren Dieb auf der Richterbank in Den Haag sehen, und eine Kaskade dessen, was er den Menschen genommen hat, wird auf ihn niedergehen. Er hat den ­Frieden, die Ruhe, das Leben der Menschen und auch den Sinn des Feierns geklaut.

Ich frage mich, was er bei seinem Neujahrsgruß an seine Bür­ge­r:in­nen sagen wird? Wäre er ein ehrlicher Mensch, würde er sagen: „Ich habe den Ukrainern die Neujahrsstimmung und dem russischen Volk die Zukunft gestohlen.“

***

Kateryna Smirnowa ist 25 Jahre alt und kommt aus Kyjiw. Sie arbeitet als freiwillige Helferin in den umliegenden Dörfern und hilft beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser. Neben dieser Freiwilligenarbeit und der Arbeit als Übersetzerin ist sie Schlagzeugerin in einer Folkband, die traditionelle ukrainische Lieder spielt und sie für eine Opernaufführung aufbereitet. Für die Proben reist sie regelmäßig nach Lwiw:

Keine Ahnung, ob ich mir Frieden vorstellen kann.

Ein ukrainisches Stillleben auf dem Küchentisch Foto: Kateryna Smirnowa

Frieden, das klingt so verlockend. Schon vor der Krim-Annexion durch Russland im Jahr 2014 haben wir gewitzelt, dass Ukrainer und Ukrainerinnen sich nie einfach so hinsetzen und entspannen können. Sie müssen immer auf der Hut sein. Sie müssen immer damit rechnen, fliehen zu müssen. Sie müssen sich vernetzen, schnell und präzise sein und immer ein paar andere Optionen parat haben für den Fall, dass etwas schiefgeht – und in der Regel geht es schief.

Sind die Menschen überhaupt an Frieden interessiert? Frieden ist nicht gerade eine sexy Marketing- oder Storytelling-Strategie. Wir würden vermutlich den stillen Tod vorziehen als ständig dieses Unbehagen, wenn uns die Medien über alle Details des Sterbens informieren.

Wirklich problematisch ist die Tatsache, dass viele den Frieden für selbstverständlich halten. „Nein zum Krieg“ ist genauso wenig eine Haltung wie „Alle Leben zählen“ – es ist vielmehr ein schwaches Konzept, das mit verführerisch friedlichen Worten maskiert wird.

Kommt hinzu: „Für den Frieden kämpfen“ klingt falsch. Sprache ist ein herzloses Phänomen.

Wenn mich meine Freunde und Freundinnen aus dem Ausland danach fragen, versuche ich einerseits die Wahrheit darüber zu erzählen, wie ich und meine Angehörigen leiden, und andererseits niemandem den Tag zu verderben, indem ich emotional und dramatisch bin. Ja, Menschen, die vom Krieg betroffen sind, klingen verbittert.

Einmal hatte ich Gelegenheit, einen Vortrag über das Leben junger Freiwilliger in der Ukraine nach dem 24. Februar mit zu veranstalten. Das Publikum, lauter junge Dänen und Däninnen, brauchte eine halbe Stunde, um sich mit Limonaden und Snacks zu versorgen, um es durch meinen Vortrag zu schaffen. Ich brachte es nicht über mich, sie darauf hinzuweisen, dass das unhöflich ist. Ich sah nur, wie die armseligen 45 Minuten, die mir zur Verfügung standen, dahinschmolzen. In diesem Moment war die Frontlinie in meinem schiefen, gezwungen höflichen Lächeln zu sehen.

Ich bin keine Maschine. Ich versuche Ruhe zu finden, indem ich meine Mietwohnung einrichte. Während der Stromausfälle wird es noch kälter. Nach 16 Stunden Stromausfall sind es gerade noch 7 Grad. Ich versuche es positiv zu sehen – die Schnittblumen welken in der Kälte nicht so schnell. Ich versuche mich zu beruhigen, indem ich abschätze, ob mir der gute Kaffee schon beim nächsten Raketenangriff aus­gehen wird. Ich versuche Ruhe zu finden, indem ich mich auf analoge Bücher verlasse, die nicht aufgeladen werden müssen. Und indem ich meine Freunde sehe.

Eine meiner Freundinnen, die mich vor Kurzem besuchte, forderte mich auf, zu ihr zu ziehen, weil es in ihrer Wohnung wärmer sei als bei mir: „Ich meine es ernst, du kannst bei mir wohnen, ich bin gerade umgezogen, es ist besser geheizt. Mein Freund kämpft im Osten, also habe ich sowieso niemanden, mit dem ich die Wohnung teilen kann – komm!“

Früher konnte ich beim Wandern in den Bergen immer Ruhe finden. Das tue ich auch jetzt noch, aber der Kontrast der reinen, atemberaubenden Landschaft der Karpaten trifft mich emotional so hart, und ich muss jedes Mal weinen, wenn ich dort bin. Zu meinem Alltag in der Stadt gehört es, dass ich fleißig Nachrichten lese, mich über meine Freunde, die bei den Streitkräften sind, auf dem Laufenden halte, für sie spende und mich ehrenamtlich engagiere – nichts bremst mich. Aber sobald ich die Hügel und Flüsse auf dem Land erblicke, weine ich aus dem Gefühl heraus, dass das, was hier geschieht, ungerecht ist. Eigentlich ist doch alles so freundlich, so sanft. Wir sind doch ein sanftes Volk.

Für den Frieden kämpfen klingt falsch. Sprache ist ein herzloses Phänomen

„Du bist so sanft“, sagt mein Freund, der seit Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 zweimal aus seiner Heimat fliehen musste. Während wir noch im Bett liegen, hören wir zwei Raketeneinschläge. Wir verdrehen die Augen und stehen auf, um alles aufzuladen, was aufgeladen werden kann, bevor der unvermeidliche Stromausfall eintritt.

Einige meiner Freunde planen minutiös, in ein Dorf in der Bergregion zu fahren, für die großen Weihnachtszeremonien der Chöre. So konservativ die Gemeinde in den Bergen auch ist, der Pfarrer der wohl bekanntesten Dorfkirche von Kryvorivnya gehörte zu den Ersten, die einen Beitrag auf Facebook veröffentlichten, in dem es hieß, dass dieses Jahr die Kolyada, die Auftritte der Weihnachtschöre, verlegt würden auf den 25. Dezember, wenn auch der Rest der westlichen Welt Weihnachten feiert. Sie werden nicht Anfang Januar wie beim orthodoxen Weihnachtsfest stattfinden. Wir sind alle gespannt. Es wird wirklich eine historische Kolyada werden in diesem Jahr, denn wir haben mithilfe von Crowdfunding Geld gesammelt, um die Leute zu unterstützen, die eigentlich immer in den Chören gesungen haben, aber jetzt an der Front sind.

Die Festtagsperiode im Winter zieht sich normalerweise über zwei Monate und ist eine Zeit voller Zeremonien und Festlichkeiten. Es ist eine Zeit des Backens und Singens. Für mich war das schon immer eine Art Seelentherapie, weil man ständig von Menschen umgeben ist, die alles tun, um die Arbeit beiseitezulegen, um Zeit miteinander zu verbringen, sich gegenseitig zu besuchen und zu singen, zu singen, zu singen. In dieser Zeit habe ich mich immer geliebt und beschützt gefühlt.

Keiner weiß, wie es dieses Jahr sein wird. Alle sind zögerlich, an öffentlichen Feiern teilzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Debatte darüber, dass wir nicht zulassen dürfen, dass die Russen uns unsere Traditionen und unsere Freude stehlen.

Der Weihnachtsbaum von Charkiw steht wegen der russischen Angriffe dieses Jahr im U-Bahnhof Foto: Georgy Zeykov

Jedes traditionelle Weihnachtslied hat diesen Refrain:

Lobpreise den Himmel,

sei freudig, Erde,

lass die guten Menschen sich

guter Gesundheit erfreuen.

Als ich das letzte Mal in den Himmel geblickt habe, brauchten wir Luftabwehr. Die Erde ist von Artillerie vernarbt und gute Menschen sterben in tragischer Zahl.

Wer ist besser geeignet, um ein Bild des Friedens zu zeichnen? Eine Person, die das Vertrauen verloren hat, weil sie merkt, wie sie sich bemühen muss, um die Wahrheit zu vermitteln? Oder eine Person, die genug Zeit hat, philosophische Konzepte über das theoretische Konzept des Friedens zu lesen und zu schreiben? Und was ist, wenn es ein und dieselbe Person ist?

Ich habe das Gefühl, dass ich langsamer werde und mehr Zeit brauche, um grundlegende Dinge zu erledigen, je mehr der Dezember seinem Ende zugeht.

„Bald ist Neujahr“, höre ich.

„Bald ist es ein Jahr“, denke ich.

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