Nordderby zwischen Flensburg und Kiel: Rekordmeister wird deklassiert

Die in der Meisterschaft fast schon abgeschriebene SG Flensburg-Handewitt besiegt den Dauerrivalen THW Kiel überraschend hoch mit 36:23.

Spieler von Flensburg jubeln zusammen, umarmen sich und laufen aufeinander zu

Flensburgs Spieler feiern den höchsten Sieg, den sie jemals gegen Kiel errungen haben Foto: Frank Molter/dpa

BREMEN taz | Wenn im Handball-Nordderby zwischen Flensburg und Kiel zehn Minuten vor Schluss die Ersatzspieler beider Teams zum Schaulaufen eingewechselt werden, ein lockerer Trickwurf nach dem anderen folgt und das Publikum bereits „Oh, wie ist das schön“ singt, muss etwas Besonderes passiert sein.

Im von Handballfans in Schleswig-Holstein gern als „Nord-Classico“ titulierten Duell führte Flensburg in der 50. Minute vor heimischem Publikum mit zehn Toren – es bestand kein Zweifel mehr daran, wer hier als Sieger vom Platz gehen würde. Beim Schlusspfiff betrug der Vorsprung sogar dreizehn Tore, es war von Deklassierung und Demütigung die Rede.

Dabei empfing der Sieger den Verlierer mit dem größten tabellarischen Rückstand seit sehr langer Zeit. „Unglaublich“ war dann auch das inmitten der Flensburger Jubelgesänge meist zu hörende Wort.

Und von allen vorhergesagten Prognosen hatte sich nur eine als haltbar erwiesen: „Für dieses Spiel ist es vollkommen egal, wo in der Tabelle der THW und die SG stehen, welche Ergebnisse es vorher gab: Es geht nicht nur um zwei Punkte, es geht um viel Prestige“, sagte Kiels Trainer Filip Jicha, dessen Team demnach am Sonntag mehr als nur ein Spiel und die Tabellenführung verloren hat.

Flensburg vor dem Spiel unter Druck

Dabei hatten die Kieler im Vorfeld gezeigt, wie man den Gegner psychologisch geschickt unter Druck setzt. „Flensburg muss gewinnen, wir können“, sagte der norwegische Rückraumspieler Harald Reinkind vor dem Spiel. Vier Plätze trennten die beiden Erzrivalen da noch, nachdem die Kieler am vergangenen Spieltag die Führung übernommen hatten.

Aber Druck bekamen die Flensburger auch vom eigenen Kapitän: „Ganz ehrlich: Wenn wir das Derby verlieren, stehen wir richtig beschissen da“, sagte Johannes Golla. „Jetzt ist es noch nicht ausgeschlossen, dass wir in der Tabelle hochrutschen können.“

Der große Abstand war zum einen Folge der breiter gewordenen Spitze in der Handball-Bundesliga. Zu der gehören neben den Nordklubs, die die Liga lange fast allein dominierten, Titelverteidiger Magdeburg, die Berliner Füchse und die Rhein-Neckar-Löwen. Von ihnen waren die Flensburger bislang die einzigen, die „die PS nicht auf die Straße“ gebracht hatten, wie Flensburgs Geschäftsführer Holger Glandorf sagte.

Dabei ­gaben vor allem Niederlagen und Punktverluste gegen nominell schwächere Gegner wie Lemgo, Gummersbach, Melsungen oder zuletzt Leipzig Rätsel auf – zumal das Team von den großen Verletzungssorgen der vergangen, kräftezehrenden Spielzeiten bislang verschont geblieben ist.

Nach den Abgängen der Weltklasse-Außen Lasse Svan und Hampus Wanne fehlt die Selbstverständlichkeit, auch mal mit schwächeren Leistungen punkten zu können. Die Teamstruktur scheint anfälliger für Verunsicherungen und Unstimmigkeiten als zu früheren Zeiten, als die Mannschaft vieles davon unter sich geregelt hatte.

Der THW Kiel siegte in der Bundesliga zuletzt 2020 und 2021, direkt vor dem Nord-Konkurrenten Flensburg. Kiel wurde insgesamt 19 Mal deutscher Meister, das ist alleiniger Rekord. Zwölf Mal gewann der THW den DHB-Pokal, vier Mal die Champions League.

Die SG Flensburg-Handewitt konnte die Meisterschaft 2018 und 2019 zwei Mal hintereinander gewinnen. Daneben stehen die Meisterschaft 2004, vier DHB-Pokalsiege und der Champions-League-Sieg 2014 auf der Liste der Erfolge.

In der vergangenen Saison stand der SC Magdeburg ganz oben, Kiel auf Platz zwei und Flensburg auf Platz vier qualifizierten sich für die Champions League beziehungsweise die European League.

Hoffnung machten die starken Leistungen gegen die Mitkonkurrenten Magdeburg und Berlin sowie zuletzt die deutlichen Siege in der Liga beim Bergischen HC und in der European League gegen Budapest.

Mit breiter Brust reisten allerdings auch die Kieler nach ihrem Champions-League-Sieg beim dänischen Klub Aalborg Handbold am Donnerstag an. Seitdem waren allerdings erst zweieinhalb Tage vergangen, was die Frage, ob die Regenerationszeit ausreichen würde, aufwarf.

Das tat sie offensichtlich nicht – das erklärt aber nicht die bereits ab Mitte der ersten Halbzeit zunehmend erlahmende Gegenwehr gegen die von 6.300 Zuschauern frenetisch angepeitschten Flensburger. Die sonstige Ausnahme-Abwehr mit Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek in der Mitte und dem weltbesten Torwart Niklas Landin dahinter gelang es nie, die schnellen, flüssigen Kombinationen, mit denen die Flensburger ihre Außenspieler und Kreisläufer in Szene setzten, effektiv zu stören. Pekeler sah nach einem Foul, bei dem er dem gegnerischen Jim Gottfridsson im Flug ans Bein fasste, sogar die Rote Karte.

Mit Konsequenz und auch ein bisschen Glück

Auf der Gegenseite hielten Kapitän Johannes Golla und Simon Hald ihre Kette so eng zusammen, dass die Kieler zu vielen Rückraumwürfen gezwungen wurden, mit denen der überragende Torwart Benjamin Buric nur selten bezwungen werden konnte. Nach einer kurzen Steigerung nach der Pause, als der Vorsprung von fünf auf zwei Tore schmolz, war der Rest des Nachmittags ein rauschhafter Durchmarsch der Flensburger, die zudem in fast jeder engen Situation das Glück auf ihrer Seite hatten.

„Wir bekommen jeden Abpraller und bestrafen jeden Fehler mit unglaublicher Konsequenz“, sagte der sichtbar stolze Flensburger Trainer Maik Machulla nach dem Spiel. „Wir wollten über 60 Minuten hohes Tempo und waren bis zur letzten Minute unglaublich strukturiert.“

Die Flensburger haben zwar immer noch fünf Punkte Rückstand auf den neuen Tabellenführer aus Berlin, sie haben die Meisterschaft aber noch spannender gemacht und sind selbst auch wieder im Rennen. Aber Achtung ist geboten: Am Donnerstag kommt im DHB-Pokal mit dem HSV Hamburg wieder eine Mannschaft, die in der Tabelle hinter den Flensburgern steht.

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