Eine kleine Stilhilfe: Verflixt und zugenäht
Transportnaht? Nie gehört? Das ist nicht schlimm. Wichtig zu wissen ist nur, dass sie aufgetrennt gehört, insbesondere bei Mänteln. Immer.
Wenn die Tage kürzer und die Mäntel länger werden, fallen sie besonders auf. Beim Anstehen an der Supermarktkasse. Beim Warten auf die U-Bahn. Im Park. Überall Menschen, die ihre tacking stitches spazieren führen.
Einen offiziellen deutschen Begriff scheint es für den tacking stitch nicht zu geben, manche nennen ihn „Transportnaht“. Es handelt sich um etwas sehr Praktisches: um den lockeren Kreuzstich, der bei neugekauften Oberbekleidungsstücken, etwa Sakkos und Mänteln, den hinteren Schlitz zusammenhält – als behelfsmäßige, vorübergehende Schutzvorrichtung, um das Kleidungsstück vor dem vorzeitigen Verbeulen und Verziehen zu bewahren.
Die meisten dürften das Prinzip vom Hosenkauf kennen: Frisch erworben, sind die Taschen einer Hose oft lose zugenäht. Warum? Damit die Hose solange wie möglich ihre Form behält. Damit nicht irgendwer beim Anprobieren irgendwas hineinstopft und das Ding schon verkrumpelt, bevor der oder die rechtmäßige Käuferin es in Betrieb nimmt.
Bleiben die Taschen zu, ist es nicht schlimm, fällt es nicht weiter auf, versaut es nicht gleich den Schnitt, den Look, die Bauart der gesamten Hose. Völlig anders ist es hingegen bei der Transportnaht. Denn ein rückseitiger Schlitz lässt den Mantel ein bisschen schwingen, sorgt für einen Anhauch von Eleganz, das gilt für H & M- genauso wie für Prada-Mäntel. Lässt man ihn hinten zugenäht, kann der Mantel sich nicht entfalten, umhüllt er seine Trägerin wie ein plumper Sack, entlarvt er seinen Träger als begriffsstutzigen und respektlosen Menschen – als eine Person, die ihr Kleidungsstück schlicht nicht versteht. Modeschöpfer und Näherinnen denken sich schließlich etwas bei ihrer Arbeit, selbst wenn sie für niedrigstpreisige Massenkonfektion tätig sind.
Mit einer nicht gelösten Transportnaht am Mantelschlitz herumzulaufen ist in etwa das Gleiche, wie das Preisschild am Ärmel baumeln zu lassen. Oder mit einem Aufkleber, den ein freches Schulkind einem heimlich auf den Rücken gepappt hat, durch die Gegend zu schlendern: „Ich bin doof.“
Aber wie nun damit umgehen? Angenommen, es kommt einem ein Passant mit offenem Hosenschlitz entgegen. Oder man geht hinter einer Passantin, deren Rockrückseite im Bund ihrer Strumpfhose klemmt: Ist es da nicht eine Geste der Höflichkeit, darauf hinzuweisen?
Jahrelang habe ich davor zurückgescheut, Menschen auf ihre hinten zugetackerten – also falsch getragenen – Mäntel anzusprechen.
Das hat mit der Altersfrage zu tun. Und mit der Klassenfrage auch ein bisschen. In meinem Viertel, zum Beispiel, verdienen die meisten Leute wenig Geld, wahrscheinlich ungefähr so wenig wie ich als halbe taz-Redakteurin (oder noch weniger). Wenn ich hier junge Frauen sehe, die ihre Mango- oder Zara-Mäntelchen ausführen, mit zugenähten Schlitzen, verkneife ich mir den Stilhinweis. Auf keinen Fall will ich als Schnöselin erscheinen, als bourgeoise Blunzkuh, die sich für „etwas Besseres“ hält, denn ich halte mich nicht für etwas Besseres. Nur für ein bisschen erfahrener vielleicht.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Einmal habe ich es doch gewagt. Am anderen Ende der Stadt. Da, wo die Eigentumswohnungen sind, die für Homedekor-Storys fotografiert werden. In einem unendlich schick beleuchteten Museum, in dem gerade – kein Witz – eine Ausstellung preisgekrönter Modefotografie aus den 1960er Jahren lief. Eine Besucherin, ungefähr in meinem Alter, wandelte ein paar Meter vor mir durch die Hallen, in einem schwarzen, fast knöchellangen, teuer wirkenden Mantel. Ein avantgardistischer, ziemlich attraktiver Schnitt – eigentlich.
„Entschuldigen Sie“, flüsterte ich. „Ja?“, fragte die Frau. „Sie tragen noch die Transportnaht am Mantel.“ Mit einem Finger deutete ich diskret in Richtung des verhunzten Schlitzes. Sie drehte ihren Kopf nach hinten, klopfte sich hektisch auf den Mantel, als ob da eine Fluse hing, blickte wieder zu mir und lächelte: „Danke sehr.“ – „Nein, ich meine: Ihr Mantel ist da hinten noch zugenäht“, sagte ich. Worauf sie den Saum ihres Mantels anhob, ihn musterte und dann ihren Blick auf meine mickrige Statur im nachtblauen Agentinnentrenchcoat von C & A richtete. Und schließlich, noch immer den Saum ihres edlen Teils in der Hand haltend, sagte: „Sorry, aber das ist Design“, und davonstöckelte.
Als ich das Museum eine Viertelstunde später verließ und meine enttackerten Mantelschöße frei und anmutig im Großstadtwind flattern spürte, wusste ich, dass niemand in diesem Betondorf einen besseren Geschmack hat als ich, die Standardstangenwarenkonsumentin, und gönnte mir eine Bockwurst mit Senf.
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