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Gefangenentheater in BerlinEin bezwingendes Spiel

Das Gefangenentheater aufBruch spielt in der JVA Plötzensee „Die Gerechten“ von Albert Camus. Ein beeindruckendes, steinerweichendes Erlebnis.

Sie sind „Die Gerechten“: die aufBruch-Truppe auf der Bühne der JVA Plötzensee Foto: Graziela Diez/aufBruch

Berlin taz | Düster und kalt ist es an diesem Spätnachmittag Ende November, ganz im Norden von Charlottenburg. Ich suche den Eingang zur Justizvollzugsanstalt Plötzensee am Friedrich-Olbricht-Damm. Abweisende Mauern überall, denn Gefängnis ist hier auf beiden Seiten der Straße. Die Altbauten sind noch übrig vom königlich-preußischen Strafgefängnis Plötzensee. Die hohen Betonmauern stammen aus den 80er Jahren.

Hier wurde damals ein besonders gesichertes Frauengefängnis errichtet, um potenzielle weibliche RAF-Mitglieder unterzubringen. Heute ist hier mit der JVA Plötzensee ein Männergefängnis untergebracht. aufBruch, das Berliner Gefängnistheater, zeigt derzeit hier seine neueste Produktion: „Die Gerechten“ von Albert Camus.

Vor dem Eingang zum Gefängnis ist ein Tischchen mit Programmheften aufgebaut. Danach muss ich durch drei Glastüren, im Zickzackkurs geht es durchs Gebäude. Plötzlich führt eine steile Treppe nach oben und dann muss ich in einen kargen, fensterlosen Raum zur Leibesvisitation. Irgendwann stehe ich schließlich vor dem Kultursaal, der rettenden Insel in dieser klaustrophobischen Umgebung.

Ein knallroter, raumhoher Rahmen trennt die Bühne vom Zuschauerraum. In diese Rahmung stellen sich acht junge Männer, sie blicken zu den ZuschauerInnen und füllen mit ihrem chorischen, kontrolliert wütenden Sprechen den Raum. Dieser Raum wird aufgeladen mit einer Energie, die den ganzen Abend tragen wird.

Gefangene und Profis erarbeiten die Stücke gemeinsam

Peter Atanassow, der langjährige aufBruch-Regisseur, nutzt gerne das chorische Sprechen in seinen Inszenierungen. Dieses Mal ist die Wirkung besonders stark. Es ist eine bezwingende Kombination aus Ort, Text und Bühnenpräsenz.

Es ist eine bezwingende Kombination aus Ort, Text und Bühnenpräsenz

aufBruch spielt auch draußen, zum Beispiel in der Freilichtbühne Jungfernheide. Das Theaterprojekt, das sich in erster Linie über Spenden- und teils öffentliche Fördergelder finanziert, besteht aus einem Stamm von professionellen Theatermachenden, die gemeinsam mit den Gefangenen die Stücke erarbeiten.Die Truppe hat von „Odysseus“ über „Die Räuber“ und „Götz von Berlichingen“ bis „Parsifal“ „alles durch“.

Mit „Die Gerechten“ von Albert Camus hat Atanassow einen Text gefunden, der einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die zeitlose Frage, ob zum Tyrannenmord jedes Mittel recht sein kann, anhand einer wahren Begebenheit in Russland im Jahr 1905 thematisiert.

Ein mit absoluter Konzentration im Chor skandierter Text über die Ungerechtigkeit im Zarenreich hat innerhalb der Gefängnismauern eine Wucht, die „draußen“ in diesem Ausmaß schwer vorstellbar ist. Und das hat wiederum mit den Schauspielern und ihrer gegenwärtigen Situation zu tun: Es sind Strafgefangene der JVA Plötzensee, die sich der aufBruch-Truppe für diese Produktion angeschlossen haben.

Sie tragen den für sie fremden Sprachrhythmus mit bezwingendem Ernst vor – man sieht die Anstrengung. Und sie haben, hier passt der altmodische Ausdruck wunderbar, den Text verinnerlicht.

Ein Tyrannenmord endet im Gefängnis

Ausschnitte aus Stummfilmen von Sergej Eisenstein strukturieren den Abend und leiten über zwischen den Szenen. Vor allem aber weiten sie die karge, kammerspielartige Bühne zu dem öffentlichen Raum, der für die Protagonisten unabdingbar ist.

Es geht um die geplante Ermordung des Großfürsten Sergej in seiner Kutsche. Das Attentat schlägt das erste Mal fehl, weil die Neffen des Großfürsten auch in der Kutsche sitzen und der Revolutionär Janek Kaljajew, der ausgewählt wurde, um die Bombe zu werfen, nicht imstande ist, Kinder zu töten.

Lauan A.s Kaljajew ist ein Revolutionär der leisen Töne und des dreiteiligen Anzugs. Er rezitiert ein Gedicht und dann tötet er den Großfürsten, aber nur ihn, und wandert dafür ins Gefängnis. Nehad Fandis stattet Stepan, Kaljajews Gegenspieler, zuerst mit Charisma aus – bevor er ihn dann immer mehr in den Fanatismus abrutschen lässt, was auch dessen Körpersprache immer mehr verändert.

Steven Mädel hat anfangs eine Nebenrolle und erobert dann die Bühne, zuerst als Skuratow, Vorsitzender des Polizeidepartements, und dann als Witwe des ermordeten Großfürsten. Spielend füllt er die Bühne, er tanzt und singt zu dem Kalter-Krieg-Schlager „Moskau, Moskau“ und bringt als Großfürstin eine Prise Humor und Glamour in das ernste Spiel.

Als Schauspieler steigt das Ansehen im Knast

Mädel ist seit zwölf Jahren bei aufBruch, ein alter Hase. Als Schauspieler im Gefängnis aufzutreten, steigere das Ansehen im Knast, sagt er. Und man baue zwischenmenschliche Beziehungen auf, das sei im normalen Gefängnisalltag nicht möglich. Trotzdem wolle nur ein Bruchteil der Gefangenen Theater machen. Und von denen, die mitmachten, hielten auch nicht alle den Probenprozess durch. So sind dieses Mal von 13 Spielern nur acht übrig geblieben.

Sie singen am Schluss: „Wenn du den Mut verloren hast, dann glaub, wenn du nicht mehr weiter weißt, dann glaub …“. Mit höchster Körperspannung stehen sie da und singen von Angst, Verzweiflung und einem Hoffnungsstrahl. Es ist ein Schlager von Mireille Mathieu, der an diesem Ort, von diesen Menschen gesungen, eine Intensität entfaltet, der sich höchstens ein Stein entziehen kann.

Punktgenau zur Premiere der „Gerechten“ ist im Alexander Verlag der 400 Seiten dicke Wälzer „AufBruch. Das Berliner Gefängnistheater. Ein Porträt“ erschienen. In Texten und Interviews blickt der aufBruch-Dramaturg Hans-Dieter Schütt auf 25 Jahre zurück. Immer wieder trifft man im Buch auf die eindrücklichen Fotografien von Thomas Aurin. Am Schluss das Werkverzeichnis: Jährlich sind zwischen zwei und fünf Premieren herausgekommen. Und es geht weiter: 2023 wird in der Jugendstrafanstalt Berlin „Macbeth“ gegeben und in der Freilichtbühne Jungfernheide „Die Räuber“.

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