Butscha und die Erinnerung: Auf den Spuren der Mörder
Ein Redakteur arbeitet in Butscha als Bestatter. Ein Architekt hilft bei Reparaturen, ein Künstler will dort sein Atelier einrichten. Sie wollen, dass man sich an den Ort erinnert.
D er Sound des Kiewer Novembers, das ist das Rattern von Generatoren, das sich bei Einbruch der Dunkelheit im Stadtzentrum von einer Straße in die nächste zieht, in Wohnhäusern von einer Etage durch das Treppenhaus, das in Cafés, Restaurants und Hotels zu hören ist, die es sich leisten können. So begegnet die Stadt der grassierenden Stromknappheit – ausgelöst durch die gezielte russische Bombardierung ukrainischer Infrastruktur.
Generatoren sind nur eine weitere Behelfslösung, mit denen sich die Bevölkerung an die prekären Verhältnisse der fragilen Realität anpasst. Der russische Angriffskrieg geht in den zehnten Monat – und in den ersten Kriegswinter. Zur Taktik der russischen Militärs gehört es, der ukrainischen Bevölkerung systematisch Licht, Wärme und Wasser zu entziehen: Aktuell sind durch die massiven Angriffe etwa 50 Prozent des Stromnetzes beschädigt und über zehn Millionen ukrainische Haushalte ohne Elektrizität, erklären offizielle Stellen.
„Zuerst wurden Molotowcocktails gebastelt, dann Panzerfallen und tragbare Kocher gebaut, dann Tarnnetze gewebt. Jetzt sind es die Generatoren, die zu Symbolen für unsere Kriegsrealität geworden sind – für unsere Anpassungsfähigkeit“, sagt der Architekt Borys Medvedev bei einer Zigarette, gegen eindringliches Geratter der Generatoren anredend. Auf sein Gesicht fällt das gedimmte Licht aus den Fenstern des Kiewer Cafés, wo er gerade an einem neuen Kunstprojekt arbeitet.
Borys Medvedev, Architekt
Als „Ruinen-Tourismus“ bezeichnet Medvedev die Aktionen, denen er sich angeschlossen hat. Aufräum- und Reparaturarbeiten in den stark zerstörten Vororten der Hauptstadt werden hauptsächlich von Freiwilligen erledigt. Medvedev, so sagt er, interessiere der Gedanke einer „Nullifizierung“ der Realität – auf den Ruinen werde etwas Neues entstehen. „Diese Ruinen sind das Material, das uns gegeben wurde, um die Zukunft zu formen“, sagt er über sein Kunstprojekt „Dehumanisation“. Dass seine Formulierung zynisch klingen könnte, dessen ist er sich bewusst: „Ich habe keinen persönlichen Bezug zu Butscha“, räumt er ein.
Den besitzt Nikita Kadan, ein in Kiew geborener, vielfach ausgezeichneter Künstler, der sich entschieden hat, diesen Winter in Butscha zu verbringen – sein dortiges neues Studio will er im kommenden Jahr in eine Kunstresidenz verwandeln.
Durch den Krieg habe sich die Liste der Galerien und Museen, mit denen er zusammenarbeite, um etwa ein Drittel vergrößert. „Die aktuelle Aufmerksamkeit des Westens für die ukrainische Kultur ist die Kompensation für die Waffen, die der Ukraine nicht gegeben werden“, sagt Kadan, dessen Themen Erinnerungspolitik, kollektive Traumata und Katastrophen sind, auf der Taxifahrt nach Butscha. Er nutzt die internationale Bühne trotzdem, wann immer sie ihm durch seine Arbeit geboten wird, um die Ukraine ins Sichtfeld „des Westens“ zu rücken – und an den Krieg zu gemahnen.
Der Weg nach Butscha
Der Weg nach Butscha führt aus dem Zentrum in Richtung Nordosten über eine von Fabriken, Businesszentren und Autowerkstätten gesäumte Straße. Vorbei an Militärposten und einem Markt, wo Rentnerinnen mit Kopftüchern leuchtende Herbstblumensträuße neben Panzerfallen verkaufen. Diesen Weg wären die russischen Truppen gekommen, hätten sie das Ziel ihres gescheiterten Blitzkriegs Ende Februar/Anfang März erreicht.
Butscha: Das sei für ihn immer ein Ort gewesen, der sich einerseits durch Datschen, Fichtenwald und Seen, andererseits aber auch durch bourgeoise Wohnkomplexe auszeichnete. Nach 2014 entstanden hier neue Wohnkomplexe unter so vielverheißenden Namen wie „Rich Town“ oder „Green Life“ – besonders Geflüchtete aus den umkämpften Gebieten in der Ostukraine siedelten sich an. Jetzt, da Orte wie Irpin stark zerstört sind, denken internationale Architekten bereits über einen umfassenden Wiederaufbau der Stadt nach, der zum Modell für andere massiv zerstörte Kommunen wie Mariupol, Charkiw oder Cherson werden könnte.
Nahe der Ortschaft Horenka werden erste Zerstörungen sichtbar. Hochgewachsene rote Fichtenstämme mischen sich mit schicken Wohnanlagen. Datschen säumen die Straße, teils verbarrikadiert, teils zerstört und teils wieder instand gesetzt.
Oleksandr Mykhed, Schriftsteller und freiwilliger Soldat der ukrainischen Armee, zeigt auf die Überreste seines Hauses: ein schwarz verrußter Krater, in dem nur ein wirres Skelett aus Fenstern und Mauerwerk zu erahnen ist. Es scheint, als sei die gesamte Reihenhauskonstruktion im Begriff in sich zusammenzufallen.
Anfang April stellte Mykhed, Autor des preisgekrönten Buches „Dein Blut wird die Kohle tränken“, in einem Tagebucheintrag auf der Seite des PEN-Clubs Ukraine die Frage: „Sind Worte nach dem Butscha-Massaker noch möglich?“ Die Lehre dieses Krieges sei: „Bereite dich auf das Allerbitterste vor, aber die Russen werden etwas noch Grausameres anrichten.“ Mykhed erinnerte so auch an Theodor Adorno, der 1949, vier Jahre nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus erklärt hatte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“
Die verlorene Nachbarschaft
Oleksandr Mykhed führt durch seine verlorene Nachbarschaft in Hostomel. Er erzählt, wie er und seine Frau am 24. Februar von Explosionen geweckt wurden und flüchteten; von seinen Eltern, die von ihrem Fenster aus ansehen mussten, wie die russischen Soldaten in Butscha einfuhren. 20 Tage lebten sie unter der Besatzung, nachdem sie sich gegen die Evakuierung gewehrt hatten – wegen der Katze, die ihr Sohn Oleksandr ihnen zwei Jahr zuvor geschenkt hatte.
Die Zahlen Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar sind nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft mehr als 8.300 Zivilisten getötet worden. Unter ihnen seien 437 Kinder, teilte Generalstaatsanwalt Andrij Kostin mit. Mehr als 11.000 Menschen seien in dem fast neun Monate andauernden Krieg verletzt worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte Kostin zufolge aber höher liegen, da ukrainische Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten noch keinen Zugang hätten. 216 Personen seien als mutmaßliche Kriegsverbrecher gemeldet worden, darunter 17 russische Kriegsgefangene. Von 60 Personen angeklagten Personen seien bisher 12 verurteilt worden.
Die Gräueltaten Die Ukraine stößt in den jüngst befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Donezk nach offizieller Darstellung auf immer mehr Beweise für Gräueltaten der einstigen russischen Besatzer. In den vergangenen zwei Monaten seien in diesen Gebieten über 700 Leichen entdeckt worden, sagte Kostin. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilpersonen gehandelt. Daneben seien etwa 20 Orte entdeckt worden, wo Zivilisten verhört und in Gefangenschaft gehalten worden seien, sagte er weiter. (dpa)
„Alles liegt in Blut, alles ist Erinnerung“, sagt Mykhed, als wir vor den ausgebrannten Gebäudehüllen in einem älteren Teil von Hostomel stehen. Er wiederholt sich auf einer Straßenkreuzung, wo zehn russische Panzer in die Enge getrieben worden waren: „Wir dürfen nicht vergessen, dass auch diese Kreuzung in Blut getränkt ist.“
Auf der Hauptstraße unweit eines modernen Wohnviertels begann am 25. Februar eine russische Spezialeinheit entgegenkommende Wagen zu beschießen. Auf ihrer Rechnung: zehn Fahrzeuge, sechs getötete und sechs verletzte Menschen. „Wir kennen ihre Namen und wissen, dass sie russische Offiziere waren“, erklärt Mykhed, zwischen Fichtenbäumen, unweit der Schnellstraße stehend.
Olexandr Mykhed, Schriftsteller
Sie waren hier, hatten ein Ziel und eine Intention. Wie einen Erinnerungsdiskurs schaffen, wie der Opfer des Kriegs gedenken, wenn ein Ende der russischen Angriffe nicht abzusehen ist? Schreiben sei nur eines der Instrumente, die die Grundlage für ein kollektives Erinnern legen könnten. „Die Verbrechen dürfen nicht vergessen werden – das schriftliche Dokument ist mein Gedächtnis.“
Blau-gelbe Flaggen wehen auf dem Friedhof von Butscha. „Den Toten ist es eigentlich egal, ob und wie sie bestattet werden, aber sie haben Verwandte“, sagt Evgen Spirin, eigentlich Chefredakteur des ukrainischen Medienprojekts Babel. Er steht neben einem ordentlichen Raster aus aufgehäuften Erdhügeln und Holzkreuzen in Turnschuhen auf matschigem Grund.
Der Friedhofsgräber
„Wir waren diejenigen, die diese Gräber ausgehoben und die Leichen bestattet haben. Normale Leute – nicht die CIA oder Special Security Forces“, sagt er. In diesem Abschnitt des am Ortsrand gelegenen Friedhofs fehlen die Namen – die Kreuze sind lediglich mit Nummern, Verweisen auf den Fundort und Aufschriften „Hier ruht …“ versehen. Dies sei ein Ort, um der Toten zu gedenken und die ukrainischen Verteidiger zu ehren. Die Namenlosen stammen aus einem Massengrab auf dem Gelände der St.-Andreas-Kirche in Butscha.
Nach Butschas Fall am 3. März wurden Menschen, die sich auf vorbereiteten Listen fanden, sowie freiwillige Soldaten und einfache Zivilisten, die den russischen Angreifern suspekt erschienen, unter anderem in ein Bürogebäude auf der Jablunskastraße Nummer 144 verschleppt, dort gefoltert und zum Teil ermordet. Seit April arbeitet Evgen Spirin als Bestatter – er kümmert sich mit anderen Freiwilligen um die Dokumentation der Kriegsverbrechen und die letzte Ruhe der Ermordeten. „Im Kiewer Umland töteten die Russen mehr als 1.500 Menschen, 416 allein in Butscha“, sagt er. „Das sind gezielte Verbrechen. Wir wollen beweisen, dass es ein Genozid ist.“
Wochenlang erledigte Spirin morgens seine journalistische Arbeit, um dann zum „Morh“, Ukrainisch für Leichenschauhaus, zu fahren. Nur siebzehn Personen konnten sie nicht identifizieren: „Ein gutes Ergebnis, denke ich.“ Auch schwarzer Humor habe geholfen, mit der täglichen Konfrontation mit dem Tod fertig zu werden, sagt Evgen Spirin. Seine lilafarbene Wollmütze scheint es zu bestätigen – die Aufschrift „Shit happens“ prangt auf seiner Stirn. „Anfangs dachten wir: Journalisten können auch Aktivisten sein. Jetzt denken wir: Jeder Ukrainer hat einen Beitrag zu leisten.“
Neben dem Bahnhof von Butscha ist an diesem Novembersonntag ein Markt aufgebaut: Kartoffeln und Äpfel, Birnen, Mandarinen und Honiggläser leuchten vor dem Hintergrund von Schutt und grauem Asphalt. Trödel, Kurzwaren, aber auch selbst gezogene Pflanzen stehen zum Verkauf. Der Künstler Nikita Kadan hält eine gerade erstandene Topfplanze im Arm: „Die hat die russische Besatzung überlebt“, sagt er.
Zwei Männer mit faltigen, aber freundlichen Gesichtern unterhalten sich, neben ihnen glänzen auf der Autohaube drapierte Bestecke, Töpfe und dekorative Figuren in der tiefstehenden Sonne. „Wenn wir die Rashisty nicht aufhalten, gehen sie bis nach Europa – und das wird schrecklich sein“, sagt einer von ihnen mit dem Namen Ihor. Er benutzt mit Rashisty eine Sprachschöpfung, die so viel wie „russische Faschisten“ bedeutet und aus ebenjenen zwei Wortstämmen zusammengesetzt ist.
Der Rentner
Der Rentner erzählt, wie er die 37 Tage russische Besatzungszeit erlebt hat: Aus seiner Wohnung auf der Voksalnastraße heraus habe er die russischen Panzer in Richtung Irpin feuern sehen. Er versteckte sich, ging nicht hinaus. Eine Nachbarin sei beim Wasserholen von Geschossen ins Bein getroffen worden, ein Nachbar am Hals und im Rücken. „Sie wüteten grenzenlos.“
Mit zwei Tassen Tee und einem Teller Suppe am Tag musste er auskommen. Dass sie überlebt haben, sei reines Glück gewesen.
Dann bittet Ihor um Hilfe. Er sei Feuerwehrmann gewesen, behindert durch seinen Einsatz in Tschernobyl. Seine Pension reiche nicht für die Renovierung des Schadens an seiner Wohnung, geschweige denn an seinem Backsteinhaus am Stadtrand.
Bis auf eine provisorische Dachkonstruktion sei bisher nichts unternommen worden. Freiwillige seien zwar vorbeigekommen, um sich das Haus und seine Wohnung anzusehen, dann aber einfach wieder weggefahren. Mit Unterstützung von der Regierung sei nicht zu rechnen – schon gar nicht vor dem Winter. „Nun, wie wohnen wir? Im Schlafsack wohnen wir.“
Eine Brücke verbindet den nördlichen mit dem südlichen Ortsteil von Butscha. Über die südlich verlaufende Voksalna, gesäumt von einer Mischung aus Hausüberresten, leeren Trümmerfeldern, teils wiederhergerichteten und teils neu gebauten Wohnhäusern, kommen wir auf eine Straße am Ortsrand, die nach dem ukrainisch-sowjetischen Sänger Nasariy Jaremtschuk benannt ist. Hier stehen Wohnkomplexe aus den 2000ern – rußige, verformte Spuren sind an einigen Stellen der neunstöckigen Gebäudestrukturen erkennbar.
„Das Licht funktioniert nicht“, warnt ein Bewohner vor dem Hauseingang. Je weiter wir im Treppenhaus hinaufsteigen, desto lauter wird das Summen eines Generators. Im siebten Stock hängen mehre Mobiltelefone an einer Stromquelle, zwei Kinder und ein Mann hocken auf den Stufen. Vom Balkon aus fällt der Blick auf den Bahnhof von Butscha, in Richtung Hauptstadt. Die weißen Lettern „Millenium State“ prangen auf einer Wohnanlage gegenüber.
Warum Butscha? Kleine, aber bedeutsame Geschichten verbinden Nikita Kadan mit diesem Ort: Etwa das Schicksal eines näheren Bekannten, der von russischen Soldaten umgebracht wurde. „Ich kannte diesen Mann aus Kiew: Er wurde zusammen mit seinem Hund auf der Türschwelle seines Hauses erschossen.“
Beweise sammeln
Es gehe ihm um Zeugenschaft, um die Erfahrung. „Du musst nicht zwangsläufig Subjekt bleiben, sondern kannst selbst Beweisobjekt sein.“ Kadan interessieren etwa die Panzerspuren im Asphalt vor seinem Haus: eine gezeichnete Struktur, ein sichtbares Faktum – ein Beweis. In einer seiner jüngsten Arbeiten spiegelt sich diese Methode: „Evidence Sculptures“ sind in den Trümmern von Hostomel gefundene und durch die Hitze deformierte Objekte aus Müll, Glas und Porzellan.
„Material bewahrt die Erinnerung des Ortes und der Verbrechen – und es gibt Technologien, die es erlauben, sie zu lesen. Irgendwann werden wir auf atomarer Ebene alles lesen können.“
Auf der Neuen Chaussee im nördlichen Teil von Butscha, kurz vor dem Ortsausgang, steht ein riesiges zusammengesunkenes Einkaufszentrum: Die großen Leuchtlettern „EPICENTR“ sind von der Hitze verformt, Metallpanele geschmolzen. Ob die russischen Soldaten mit diesem Angriff auch gegen dieses Wort ankämpfen wollten – mit dem irrationalen Ziel, Butscha, diesen wohlhabenden Ort, ein für alle Mal aus dem Epizentrum zu befördern?
Diesen Krieg als Genozid zu bezeichnen sei keine Übertreibung, sagt Nikita Kadan. Die staatliche russische Ideologie beruhe nicht auf sowjetischen Grundlagen, sondern sei eine radikal rechte, neoimperialistische Vorstellung. Mit dem 24. Februar sei ihr offen faschistischer Charakter unverkennbar geworden. „Russland als faschistischer Staat verändert die Balance auf dem ganzen Planeten. Jene, die behaupten, dass wir uns an diese neue Balance anpassen, uns verändern oder das Bild Russlands annehmen müssen, tragen Mitverantwortung an Butscha und anderen russischen Verbrechen.“
Den Schuldigen der Kriegsverbrechen nur in Wladimir Putin zu sehen, hieße, die russische Verantwortung von vielen auf eine Figur zu schieben, die früher oder später die Bühne verlässt. „Dann wird es leicht sein, etwa die ökonomischen Verbindungen zwischen Deutschland und Russland einfach zu vergessen.“
Es bleibe die schreckliche Machtlosigkeit der Worte: „Wie kann über all das gesprochen werden, wenn das Argument für die Kapitulation der Ukraine bedeuten würde, dass sie ganz eingenommen und mit Folterzimmern und Filterlagern ausgestattet wird?“
Als Nikita Kadan im Sommer in Butscha war, sei es heiß gewesen – man habe die Verbrechen in der schweren Luft förmlich spüren können. „Jetzt ist es anders – es scheint, als habe das Leben gesiegt“, sagt Kadan auf dem Weg zurück ins Zentrum.
Wie die Erinnerung bewahren?
Auch wenn der Wald um Butscha vermint ist und dort noch immer menschliche Körper gefunden werden, ist Kadan sicher: Butscha wird erneuert werden. Eine andere Frage sei, wie sich die Stadt zu ihrem Status als Erinnerungsort verhalten werde: „Vielleicht wird es unterteilte Flächen geben: Räume, die der Erinnerung gewidmet sind, und solche, wo das Leben stattfindet.“
Eine Gefahr sieht der Künstler darin, dass man irgendwo auf einem Platz ein Monument aufstellen, gleichzeitig jedoch die Zeichen der Verbrechen in Vergessenheit fallen lassen könne. „Viele Leute denken: Was war, das war – aber wir müssen doch weiterleben.“
Der Schriftsteller Oleksandr Mykhed schreibt ein paar Tage nach unserem Spaziergang: „Je mehr Beweise wir haben, desto größer ist die Hoffnung, dass der Russismus niemals siegt und das russisch-sowjetische Imperium fallen wird.“ Im Falle von Butscha könne die Symbolkraft des Ortes helfen, ein Verständnis von dem Ausmaß der Verbrechen und ihrer Systematik zu vermitteln.
„Butscha ist eine offene Wunde. Eine unter vielen – Mariupol, Isjum, Cherson –, aber jene, die gut untersucht und rekonstruiert wurde. Deshalb ist es so wichtig, über sie zu sprechen.“ In den Worten des Journalisten und Bestatters Evgen Spirin: „Butscha ist nur eine kleine Stadt – denkt über das Ausmaß nach.“
Butscha sei ein Modell für den genozidalen Krieg Russlands in der Ukraine – für das, was in Mariupol oder Isjum wiederholt wurde, und das, was weiterhin in den von Russland okkupierten Gebieten passiere. Das zu sehen sei wichtig, schreibt der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder. Denn wenn mensch einmal einen Genozid gesehen habe, könne er nicht mehr nur zuschauen.
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