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taz-Recherche zu RettungsleitstellenFehlgeleitet

In Rettungsleitstellen wird entschieden, was ein Notfall ist. Menschen, die kaum Deutsch sprechen, kriegen dort nicht immer adäquate Hilfe.

Hat die Berliner Feuerwehr also ein Problem mit mangelnder Sensibilität oder gar Rassismus? Foto: Yvonne Röder/plainpicture

Wer die 112 anruft, der landet in einer Leitstelle. Medizinisch ausgebildetes Personal nimmt die Anrufe entgegen. Sie stellen die wichtigsten Fragen und schicken einen Rettungswagen, wenn sie das für richtig halten. Und sie informieren die Rettungskräfte schriftlich darüber, was sie am Einsatzort erwartet.

In der Leitstelle in Neuss in Nordrhein-Westfalen nehmen 25 Mitarbeitende Notrufe an. Anfang Februar schickte ei­ne*r von ihnen einen Rettungswagen nach Grevenbroich-Elsen, in eine Hochhaussiedlung. Der Alarm, den die Sanitäter des Roten Kreuzes auf ihre Meldegeräte bekamen, lautete: Internistischer Alarm und „WEIß NIX; VIEL KRANK“.

Die Melder erinnern an alte Handys: Auf einem Display stehen der Einsatzort und eine vermutete Diagnose. Für den Einsatz in Grevenbroich wäre zum Beispiel „unklarer Infekt“ eine passende Information gewesen, sagt ein Mann, der bei dem Einsatz dabei war und anonym bleiben möchte. Medizinisch hilfreich sei das, was dort gestanden habe, nicht.

Der Patient, der aus einem afrikanischen Land stammt, sprach nur gebrochen Deutsch. Am Einsatzort, der Wohnung des Mannes seien die Beschwerden des Patienten nicht ernst genommen wurden. So beschreibt es der Zeuge der taz. Der einsatzleitende Notfallsanitäter wollte demnach nicht in die Wohnung. Dem Patienten sei Fieber gemessen worden, 38 Grad. Der Sanitäter habe nicht versucht, richtig mit ihm zu sprechen, schildert der Zeuge.

Er habe den Frierenden neben die geöffnete Tür des Krankenwagens gesetzt und ihm eine Decke verweigert. Später, bei der Übergabe des Patienten im Krankenhaus, habe der Sanitäter gesagt, dem Patienten sei kalt gewesen, weil er aus Afrika stamme – nicht wegen des Fiebers. Ein Sprecher des DRK weist das zurück. Der Patient sei respektvoll und angemessen behandelt worden.

Im Rettungsdienst fehlt Personal, die Einsätze nehmen zu

Mitte September hat die taz über Rassismus und Rechtsextremismus im Rettungsdienst berichtet, etwa bei den Johannitern und Maltesern. Die Hilfsorganisationen untersuchen nun die Vorwürfe. Neue Recherchen zeigen, dass das Problem nicht erst bei den Rettungskräften beginnt, sondern zum Teil früher: in den Rettungsleitstellen. Manche Menschen bekommen nicht die nötige Hilfe, vor allem dann nicht, wenn sie kaum oder kein Deutsch sprechen.

Es gibt darüber keine offiziellen Untersuchungen. Aber solche Fälle lassen sich an vielen Orten finden, zum Beispiel in Berlin.

Nicht jede*r, der die 112 anruft, bekommt automatisch einen Rettungswagen geschickt. Manchmal entscheiden sie in der Leitstelle auch, dass der Anrufende kein Notfall ist. Wer in Berlin von der Leitstelle zunächst keinen Rettungswagen bekommt, wird später zurückgerufen, von Mitarbeitenden der Kassenärztlichen Vereinigung. Die Idee dahinter: Im Rettungsdienst fehlt es an Personal, die Einsätze nehmen zu, die Belastung auch. Die leichte Verbrennung braucht eher keinen Blaulichteinsatz, vielleicht aber trotzdem ärztliche Beratung. So weit die Theorie.

Bei diesen Nachgesprächen ist einem ehemaligen Mitarbeiter der Kassenärztlichen Vereinigung aufgefallen: Einige An­ru­fe­r*in­nen hätten doch einen Rettungswagen gebraucht. Die Leitstelle hatte eine falsche Entscheidung getroffen – und zwar vor allem dann, wenn die Anrufenden kein oder nur gebrochen Deutsch gesprochen haben.

Der frühere Mitarbeiter ist selbst Rettungssanitäter und hat in Leitstellen gearbeitet. Er hat sich die Berliner Fälle im vergangenen Jahr systematisch angeschaut. Der taz liegt ein Dokument vor, in dem er Fälle gesammelt hat. Zum Teil waren das gravierende: Da war zum Beispiel der Pflegeschüler mit Corona und akuter Atemnot, dem die Leitstelle keinen Rettungswagen schickte. Oder ein Kind, das abgelehnt worden war, obwohl es einen Krampfanfall und so starken Sauerstoffmangel hatte, dass seine Haut schon blau verfärbt war. Beide An­ru­fe­r*in­nen haben kaum Deutsch gesprochen.

Passiert hier das, was Rettungskräfte aus ganz Deutschland in unseren früheren Recherchen beschrieben haben: Gesundheitliche Probleme werden aus rassistischen Gründen nicht ernst genommen?

Die Berliner Leitstelle liegt eingepfercht zwischen einer Autobahn und den Siemens-Werken im Norden von Charlottenburg. Hier sitzt die Feuerwehr, die in Berlin auch den Rettungsdienst verantwortet. Die Leitstelle ist in einem langen Flachbau untergebracht. Auf dem Hof warten Feuerwehrautos auf ihre Reparatur. Drinnen sitzen Menschen vor Bildschirmen, mit Headset am Ohr, die fast pausenlos telefonieren. 33 Mit­ar­bei­te­r*in­nen nehmen täglich bis zu 3.500 Anrufe entgegen, daraus werden rund 1.500 Einsätze. Auf einem großen Display leuchten an diesem Mittwochvormittag die Zahlen 127 (so viele Rettungswagen sind gerade auf der Straße), 22 (freie Rettungswagen gibt es gerade) und 7,3 (Minuten braucht ein Rettungswagen zurzeit, bis er am Notfallort eintrifft).

Stefan Thaege steht auf einer Empore. Er ist der stellvertretende Leitstellenchef. Die Arbeit hier, sagt er, kann belastend sein. Anders als die Rettungskräfte vor Ort kämpfen sie hier zwar nicht mit den Bildern von Einsatzorten, aber mit ihrer Fantasie, die anspringt, wenn jemand am Telefon einen Notfall beschreibt.

Dass Anrufende in der Leitstelle ungleich behandelt werden, sagt Thaege, sei so gut wie unmöglich. Dafür sorgen die Computer. Die Mit­ar­bei­te­r*in­nen arbeiten mit einer Software. Sie heißt SNAP, Standardisiertes Notruf-Abfrageprotokoll – es führt die Mit­ar­bei­te­r*in­nen mit standardisierten Fragen durch den Notfall und entscheidet, ob Rettungskräfte geschickt werden.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Auch der ehemalige Mitarbeiter der Kassenärztlichen Vereinigung glaubt, dass SNAP Diskriminierung schwerer macht. Aber er beobachtet auch: Es gibt Schlupflöcher. Häufig seien es echte oder vorgetäuschte Verständigungsprobleme, die dazu führten, dass einige Menschen im Zweifelsfall keinen Rettungswagen bekommen. Wer in der Leitstelle arbeitet, muss nicht zwingend eine Fremdsprache sprechen. Zwar sprechen einige Englisch oder Türkisch, und die Abfragesoftware kann auf Englisch und Französisch umgestellt werden. Aber das reicht eben nicht immer – und wird offenbar auch nicht konsequent gemacht.

Mehrere Menschen, die in Leitstellen gearbeitet haben, berichten der taz, dass in einigen Fällen auch mal Sätze fallen wie „Bei uns ist Amtssprache Deutsch“, oder „Jetzt reden sie doch erst mal verständlich.“ Das treffe nicht nur Menschen mit Migrationsgeschichte, sondern auch Deutsche, die verwaschen sprechen, etwa wegen ihres Alters, einer Krankheit oder zu viel Alkohol.

Bei der Kassenärztlichen Vereinigung kommen solche Fälle teilweise mit Pauschaldiagnosen an, die mit dem tatsächlichen Notfall nichts zu tun haben. Das bestätigt ein Berliner Notfallsanitäter der taz. Auch er erlebt, dass Menschen, die kaum Deutsch sprechen, von der Leitstelle schneller in unspezifische Diagnosen gezwängt werden und dadurch mitunter eine schlechtere Versorgung erhalten.

Im Zweifel, sagt der ehemalige Mitarbeiter der Kassenärztlichen Vereinigung, der die Fälle dokumentiert hat, die der taz vorliegen, müsste man immer vom Schlimmsten ausgehen, selbst wenn man nicht klären kann, was genau das Problem ist. Ein Anruf bei der 112 könnte der letzte sein, bevor jemand stirbt

Keine Ermittlungen, keine disziplinarischen Maßnahmen

Hat die Berliner Feuerwehr also ein Problem mit mangelnder Sensibilität oder gar Rassismus? Der ehemalige Mitarbeiter schickt seine Kritik im Sommer 2021 an einen Mitarbeiter der Ärztlichen Leitung des Rettungsdiensts in Berlin. Es gehe ihm nicht darum, Kollegen zu beschuldigen, sondern „um eine Verbesserung dieser teilweise tragischen Missverständnisse“, schreibt er. Eine offizielle Meldung bei seinem Arbeitgeber, der KV, macht er nicht. Schließlich erreichen die Vorwürfe auch Stefan Thaege und seine Kollegen in der Leitstelle.

Da die Meldung anonym gewesen sei, habe man keine Möglichkeit gehabt, die Fälle nachzuverfolgen, sagt Thaege. Es gab keine internen Ermittlungen, keine disziplinarischen Maßnahmen.

Aber wurde das Grundproblem angegangen? Thaege sieht seine Leitstelle gut gewappnet gegen Rassismus: Dafür sorgen das standardisierte Abfrageprotokoll, außerdem zeichnet Berlin jeden Anruf auf und speichert ihn seit Neuestem für zehn Jahre. Die Berliner Leitstelle hat eine Abteilung für Qualitätsmanagement, die einzelne Anrufe auswertet.

In Neuss, wo Anfang des Jahres „WEIß NIX; VIEL KRANK“ auf den Meldern der Rettungskräfte erschien, arbeitet die Leitstelle mit einem ähnlichen Abfragesystem. Auf Anfrage der taz, wie diese Meldung zu verstehen ist, schreibt ein Sprecher, der Text entspreche dem Wortlaut des Telefonats, eine Verständigung mit der Anruferin sei nicht möglich gewesen. Eine Verächtlichmachung des Patienten sei auszuschließen. In der Dienststelle seien keine Mitarbeiter beschäftigt, die eine rassistische Gesinnung haben.

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8 Kommentare

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  • Liebe Taz,



    als jemand, der selbst im Rettungsdienst gearbeitet hat und nun im Krankenhaus arbeitet, kann ich euch garantieren, dass es auch in anderen "Notfall/Blaulicht" - Bereichen Rassismus, Klassismus und jegliche andere Form von Diskriminierung gibt. Ich meine damit z.B. Notaufnahmen , psychistrische Akutstationen oder Anlaufpraxen. Die meisten Menschen haben Vorurteile. Die chronischen Streß- und Anspannungssituationen, die in diesen Bereichen herrschen, bringen bei dem Personal nicht die besten charakterlichen Seiten hervor. Ja, auch viele Krankenschwestern in der ZNA (auch viele selbst mit Migrationsgeschichte) betrifft dies. Eine "No bad Apples" - Forderung (Alle raus, die kein reines, antifaschistisches Gewissen haben) würde dazu führen, dass das System komplett zusammenbricht. Kaum jemand will mehr in diesen Bereichen arbeiten.



    Ich weiß nicht, was ich von eurer Berichterstattung halten soll. Es wird sich eh nichts ändern. Das Personal in der ZNA, Rettungsdienst, Akutpsychiatrie arbeitet als Auffangbecken unserer Gesellschaft und löffelt die Suppe der Politik aus.



    Von einem ruhigen Schreibtisch aus, lässt sich darüber natürlich super urteilen...

  • Ich hatte einen Herzinfarkt, den meine Ehefrau als eindeutig erkannt hat. Sie wählte die 112 und brauchte mehrere Minunten, um den Mann am anderen Ende der Leitung davon zu überzeugen, daß sie nicht über Magenverstimmungen oder Plattfüße diskutieren wollte, sondern nur sofort einen Rettungswagen anforderte.

    Doch eigentlich waren diese paar Minuten Verzögerung Peanuts, denn danach dauerte es noch länger als eine halbe Stunde, bis ich im Krankenhaus war, und dort dauerte es noch einmal zwei Stunden bis sich ein Arzt um mich kümmerte.

    Vielleicht lag das alles ja an der damaligen hohen Corona-Belastung. Doch auch schon vor Corona waren derartige Probleme ein allgemeines Gesprächsthema.

  • Ich habe für meinen Nachbarn die 112 gewählt, weil ich durch die Wand gehört habe, dass der gehustet hat, als würde er jeden Augenblick abtreten. Er ist Single und hat nur seine sehr alte Mutter, die gepflegt wird. Der Mann von 112 verweigerte einen Rettungswagen. Nun ist er bettlägrig und ein 100% Pflegefall. Danke 112!



    Mir wurde ein RTW verweigert, also nahm ich ein Taxi am Sonntagmorgen, und fuhr ins Krankenhaus. Die nahmen Blut ab und legten mich völlig benebelt aufs Zimmer. Irgendwann stürmten Pfleger hinein und schrien: Shyce, Sie verbluten innerlich - Not-OP - Wiederbelebung. Danke 112!

  • Auch ein kritischer Punkt:



    Sobald eine Form von (illegalisiertem) Drogenkonsum vermutet wird, schaltet medizinisches Personal in Deutschland oft in einen "Selber Schuld"-Modus. Das betrifft nicht nur die RTW-Sanis, die betrunkene Menschen mit Schädelbasisbruch lieber nach Hause zum Ausschlafen schicken, sondern auch Ärzte, die bei Herzproblemen und vermeintlichem Drogenkonsum unfreundlich und ruppig werden.



    Dass das nicht so sein muss zeigt z.B. die Schweiz: Dort wird bei Aufnahme standardmäßig nach Drogen gefragt - nicht nur der Obdachlose, sondern genau so der Banker und die Hausfrau. Und bei Bejahen wird das notiert und entsprechend bei der Diagnose berücksichtigt. Nicht mehr und nicht weniger.

  • Wen wundert es, wenn es bald noch weniger freiwillige Rettungskräfte gibt.

    Nirgends liest man was diese Helden des Alltags leisten, unter welchen Strapazen sie ihren Dienst am Mitmensch verbringen, und dass sie selbst oft unter Gefahr arbeiten. Oft sogar von anderen Mitbürgern, welche sich aggressiv gegenüber den Rettern verhalten. Davon liest man in der Presse nur ganz selten mal was.

    Wehe aber es kommt von Seiten der Retter zu rassistischen Handlungen, was leider durchaus, wenn auch selten passiert. Dann stürzt sich die Presse auf diese wenigen "Retter*innen", bauscht es groß auf und lässt die Leser im Glauben, es sei ein Großteil der Rettungsdienste so rechts und Ausländerfeindlich.

    Und so kommt es, dass still und leise die Anzahl Freiwilliger in allen Rettungsdiensten immer weniger und weniger werden, weil man sich den Stress und die pauschalen Vorwürfe nicht antun will. Und wo nicht genug Personal ist, kann nicht genug gerettet werden, so einfach ist das.

    Dies soll jetzt kein pauschales Credo auf Rettungsdienste sein, aber ich meine sie Presse stellt sie zu pauschal in das falsche Licht.

    • @Rudi Hamm:

      Also ich persönlich kenne schon seit Jahren aus verschiedenen Medien das Problem, dass Rettungsdienste unter schwierigen Bedingungen arbeiten, in ihrer Arbeit mitunter behindert oder sogar angegriffen werden. Darüber, dass es im Rettungsdienst womöglich strukturellen Rassismus gibt, habe ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal in der Taz gelesen...

  • "Menschen, die kaum Deutsch sprechen, kriegen dort nicht immer adäquate Hilfe."

    „Bei uns ist Amtssprache Deutsch“, oder „Jetzt reden sie doch erst mal verständlich.“

    Der Vergleich zu anderen industrialisierten Ländern, macht es nicht ungeschehen, aber haben Sie einmal versucht, in einem andren europäischen Land Hilfe am Telefon zu bekommen, ohne, dass Sie die Sprache der Hotlinerinnen sprechen? Da hört es schon mit Englisch sehr schnell auf.

    Ärztliche Hilfe zu bekommen und seine Beschwerden entsprechend zu äußern, ist Teil der üblichen Rollenspiele / Dialoge in Sprachkursen, weil es so wichtig ist. Menschen, die ohne Sprachkurs hier leben bzw. denen ein Sprachkursbesuch nciht möglich ist haben die geschilderten Probleme

    Es ist - schlicht personell und finanziell - nicht praktikabel - Hotlines zu betreiben, bei denen - im Zweifel - der passende Dolmetscher im Hintergrund sitzt. Kennen Sie sich bei den Sprachen Afrikas aus? Hier einen passenden - medizinisch kompetenten (!) Dolmetscher zu finden, der auch noch _sofort_ verfügbar ist... Anspruchsvoll. Woher ich das weiß? Eine gewisse Erfahrung und Marktkenntnis lassen diesen Schluss zu.

    • @Zweitkorrektur:

      Ich denke das könnte man technisch lösen.



      Es gibt gute Übersetzungsprogramme auch für das gesprochene Wort.