Lauren Groffs Roman „Matrix“: Nonnen, Gärten und Sex

„Matrix“ heißt Lauren Groffs neuer Roman. Er handelt von einem Nonnenleben im 12. Jahrhundert und aktuellen Debatten über MeToo und Priesterinnen.

Zwei Nonnen sitzen auf einer Bank, eine strickt

Zwei echte Nonnen im englischen Eastbourne, die literarischen von Lauren Groff sind wilder Foto: Paul Kaye/Corbis/getty images

Im Jahr 1158 betritt eine Mischung aus Superwoman und seltsamer Heiliger die Weltbühne. Mit 17 Jahren wird Marie aus Frankreich von ihrer Königin Eleonore von Aquitanien in ein heruntergewirtschaftetes, von Krankheit und Hunger geplagtes Kloster irgendwo in England entsandt. Die junge Halbwaise, „mehr Riesin als Mädchen“, soll dort Priorin werden, also gleich nach der Äbtissin der Glaubensgemeinschaft vorstehen.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten erblüht, wächst und prosperiert unter ihrer Führung das Kloster; nicht nur die Nonnen, auch das Umland und die Krone profitieren davon. Zugleich schottet sich die Gemeinschaft zunehmend nach außen ab: ein Zivilisationsprojekt, für einmal ohne Männer.

Eine historische Utopie

Die US-amerikanische Schriftstellerin Lauren Groff hat schon einmal einen Roman über eine historische Utopie geschrieben – „Arcadia“ (2012) erzählte vom Aufstieg und Fall einer Hippiekommune während der 1970er Jahre im Staat New York –, dem deutschsprachigen Lesepublikum wurde sie aber vor allem mit ihrem Eheroman „Licht und Zorn“ (Fates and Fury, 2015) und der Kurzgeschichtensammmlung „Florida“ aus einer vom Klimawandel geprägten Gegenwart (2018) bekannt.

In beiden Büchern machte sich die 1978 geborene Autorin die Perspektiven ihrer Prot­ago­nis­t:in­nen zu eigen, bohrte sich tief in deren Wahrnehmung, spielte virtuos mit Schein und Sein.

Die Halbschwester Heinrichs II.

Was lockt sie in „Matrix“ – der Begriff wird im Roman einmal synonym mit Gebärmutter benutzt – zurück ins Mittelalter? Ist es der Wunsch nach einem Hortus conclusus, dem verschlossenen Garten Mariens, einem weiblichen Paradies, nach weniger Abstand zwischen Mensch und Natur und mehr zwischen Mann und Frau?

Lauren Groff: „Matrix“.

Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs.

Ullstein, Berlin 2022. 320 Seiten, 24 Euro

Zunächst hat Groff eine historische Figur inspiriert, die zugleich eine Leerstelle bleibt. Ihre Marie ist der Dichterin Marie de France nachempfunden, deren sogenannte bretonische „Lais“ – zwölf gereimte Dichtungen, die von unglücklich Liebenden und Magie handeln – zu den wenigen überlieferten mittelalterlichen Texten gehören, deren Autorinnenschaft namentlich identifizierbar ist.

Über Marie weiß man wenig mehr, als dass sie mutmaßlich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in England lebte, wahrscheinlich die uneheliche Halbschwester Heinrichs II. war und damit Halbschwägerin Eleonore von Aquitaniens, einer der mächtigsten Frauen des Mittelalters. Der deutsche Wikipediaeintrag kolportiert außerdem, sie sei eventuell die spätere Äbtissin von Shaftesbury gewesen.

Übergroß ist sie, eckig und hässlich

Auf Basis dieser kargen Vermutungen erfindet Lauren Groff eine Protagonistin, die alle Grenzen sprengt. Das Befremden, das ihre Marie in ihrer Zeit auslöst, schwingt auch in Groffs Roman mit: „Matrix“ ist als Zwitter konzipiert, zwischen sorgfältig recherchiertem Wissen über die Epoche, in der es spielt, und einer radikalen weiblichen Potenzfantasie, die sich aus den Diskursen, Ängsten und Sehnsüchten der Gegenwart speist.

Auch stilistisch lässt es sich nicht so leicht kategorisieren: Einerseits erzählt es chronologisch wie eine Hagiografie das Leben einer Außergewöhnlichen, andererseits steckt es voller Widerhaken und Wendungen bis in einzelne Sätze hinein, die für sich genommen elegant und knapp formuliert sind, aber nur selten einen Sog entwickeln. Das passt zu Marie, die so gar nichts Gefälliges hat. Übergroß ist sie, eckig und hässlich, weshalb Eleonore sie für nicht verheiratbar hielt. Doch der Mangel an physischer Schönheit trübt Maries Selbstbewusstsein nicht, keine Spur von Bodyshame.

Ihre Verbannung aus der profanen Welt gibt Marie den Anstoß, ihre „Matrix“ neu zu definieren, sich statt der Reproduktion der Produktion zu verschreiben. Gleich zu Beginn ihrer Klosterkarriere schreibt sie die historisch verbrieften Lais, allerdings nicht für den König, der bei Groff nicht mal erwähnt wird, sondern um die verehrte Eleonore mit ihrer Minne zu beeindrucken.

Ein feministischer Racheakt?

Männer lassen Marie grundsätzlich kalt, und ohne dass ein einziger im Roman jemals Kontur gewänne, spielen sie im Verlauf des Romans höchstens als mögliche Störer der klösterlichen Ordnung eine Rolle. Ein feministischer Racheakt der Autorin, oder doch eher logische Konsequenz der geschlechtergetrennten Sphären von Hof und Kloster? Tatsächlich haben ja auch Wissenschaftlerinnen, etwa die viel gelesene marxistische Feministin Silvia ­Federici, zuletzt öfter gezeigt, dass das feudale Hochmittelalter kein so ungebrochenes Patriarchat war, wie die Fortschrittsgeschichtsschreibung glauben macht.

Das Dichten bleibt nur eine kurze Episode, die immerhin einen beständigen Austausch zwischen Königin und Kloster etabliert. Doch der Rückruf an den Hof bleibt aus. Der Nonne wider Willen bleibt nichts anderes übrig, als Größeres zu gestalten: Sie entlässt unfähige Schwestern und stellt kompetente und loyale ein, entwickelt sich überhaupt zu einer Meisterin der Personalführung und des Managements.

Unerbittlich treibt sie, zur Not mit Gewalt, die Schulden reicher Pächterfamilien ein, die dem Kloster die Steuer vorenthalten. Sie netzwerkt nach innen und außen, sorgt neben schnurrender Produktion für gutes Essen, Bildung und medizinische Versorgung und toleriert lesbischen Sex als eine Art Wellnessmaßnahme, die Wohlbefinden und Arbeitskraft optimiert – auch ihre eigene.

Nah an Kitsch und Klischee

Nonnen, Garten, Sex – ­please, ist das nicht ziemlich nah an Kitsch und Klischee gebaut? Unbedingt. Wie zum Ausgleich lässt Lauren Groff beständig Krankheit und Tod den Aufstieg des Klosters begleiten. Ein kaputter Zahn, eine Rattenbiss, eine Geburt – all das kann zu höllischen Qualen führen oder gar ein abruptes Ende bedeuten.

Als Äbtissin entwickelt Marie immer spektakulärere Visionen. Sie realisiert kostspielige Bauprojekte, lässt ein aufwändiges Labyrinth errichten, das Männer vom Kloster fernhalten und Geburten kontrollieren soll, schließlich einen Staudamm, um die Bewässerung sicherzustellen.

Groff unterschlägt nicht, dass Maries geradezu faustischer Unternehmungsgeist seine Opfer fordert; „so vieles hat es schon verschluckt, das Gras, die Nester seltener Sumpfvögel, die Schlangenhöhlen und die Biberdämme. Das letzte Exemplar eines wundersamen roten Salamanders, der nur hier an diesem feuchten Ort zu finden war“. Schlimmer noch: Während Marie sich „königlich, päpstlich“ fühlt, stirbt ihre Bauleiterin Wulfhild, eine ihrer fünf großen, nicht immer gelebten Lieben, an Erschöpfung.

#MeToo anno 1200

So viel moderne Individualität und sexuellen Freigeist Lauren Groff Marie auch einräumt, eins tastet sie nicht an: Mit wachsender Strahlkraft und absoluter Autorität setzt die Äbtissin sich selbst gegen die offen geäußerten Bedenken mutigerer Schwestern durch. Ihre Macht zu teilen kommt ihr nicht in den Sinn; so ernst sie die Nonnen einzeln auch nimmt, in der Gesamtheit betrachtet sie sie als Herde, die es klug zu führen und zu beschützen gilt.

Und wie geht all das mit dem Glauben zusammen, der erst nach und nach in ihr wächst? Verstößt nicht ihre größte Überschreitung – die Übernahme des Priesteramtes, um die Kommunion zu feiern und die Beichte abzunehmen – gegen dessen Grundsätze? Auch einige Schwestern protestieren dagegen, schütten der Äbtissin aber doch ihr Herz aus, wobei die Frauen wo allem von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen berichten, die ihnen vor ihrer Zeit im Kloster widerfuhren: #MeToo anno 1200.

Insgeheim wartet man darauf, dass irgendwer oder irgendetwas sich der starken Marie einmal grundsätzlich entgegenstellt. Und dieses Etwas kommt unvermeidlich im fortgeschrittenen Alter, allerdings unspektakulär leise und geradezu kontemplativ. Den eigentlichen Stachel, den Lauren Groff noch in das erfüllte Leben ihrer Heldin hineintreibt, nimmt diese schon nicht mehr wahr.

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