piwik no script img

29-Euro-Ticket in BerlinEine ziemlich wacklige Brücke

Kommentar von Claudius Prößer

Von wegen zielgerichtete Hilfen: Vor dem Erwerb des neuen Billig-Abos tun sich zahlreiche Hürden auf. Vielen dürften die zu hoch sein.

Wenn's denn mal so einfach wäre: Das 29-Euro-Ticket gibt es so eigentlich gar nicht Foto: picture alliance/dpa | Annette Riedl

W ie gut ist eigentlich ein Produkt, vor dessen Erwerb man erst einmal ein seitenlanges FAQ (also eine Sammlung der häufigsten Fragen sowie die Antworten darauf) studieren muss? Kommt drauf an. Handelt es sich um einen hochwertigen Laptop, ein E-Auto oder ein Wärmepumpen-Leasing, geht das in Ordnung. Bei einem maximal drei Monate gültigen Fahrschein-Angebot eher nicht.

Dass derzeit viele Medien versuchen, die Abgründe des Berliner 29-Euro-Abos (vulgo: 29-Euro-Ticket, was so aber nicht stimmt) auszuloten und den FAQs von BVG und S-Bahn eigene hinzufügen (auch die taz), ist kein Wunder. Schließlich kann der Abschluss eines verbilligten Umweltkarten-Abos mit Sonderkündigungsrecht selbst gestandene RedakteurInnen ins Schwitzen bringen. Zumal solche, die nicht längst eingefleischte ÖPNV-KundInnen sind.

Gerade für Menschen ohne Fahrkarten-Abo sollte aber das im rot-grün-roten Senat ausgekungelte Angebot attraktiv sein – sie will man doch in großer Zahl zum Umstieg auf die Öffentlichen locken. Was zumindest bei all jenen eher scheitern wird, die wenig Erfahrung mit Abonnements haben oder ungern ellenlanges Kleingedrucktes lesen. Diese mangelnde Einfachheit ist einer der großen Unterschiede zum verblichenen 9-Euro-Ticket, das zudem für weniger Geld sehr viel mehr bieten konnte.

Insofern ist es fast erstaunlich, dass BVG und S-Bahn zum Start des Gültigkeitszeitraums auf rund 40.000 Neuabos verweisen können. Wobei: So viel ist das nun auch wieder nicht – in einer Stadt wie Berlin, in der es gleichzeitig fast 115.000 SeniorInnen gibt, deren Fahrkarten vom 29-Euro-Sondertarif nicht profitieren – oder zumindest nur, wenn sie sich auf ein Prozedere aus Produktwechsel, Kündigung und Neuabschluss einlassen, das viele ältere Menschen abschrecken dürfte: weil sie die Schlangen in den Kundenzentren ebenso fürchten wie die Tücken des Digitalen.

Ist so etwas „zielgerichtet“?

Dass es auch für die sozial Schwachen im Rahmen des Senats-Sonderangebots keine weitere Rabattierung gab (die könnte nun, vielleicht, zum 1. Januar kommen), gleichzeitig aber vielen Stamm-AbonnentInnen insgesamt bis zu 103 Euro erlassen werden, die das vielleicht gar nicht brauchen – das ist zwar in Zeiten hoher Inflation immer noch eine Entlastung, aber nicht unbedingt eine „zielgerichtete“, wie Grünen-Chef Ghirmai der taz sagte.

Und warum kommt die Überbrückung bis zu einem günstigen bundesweiten Nahverkehrsticket jetzt so verschroben rüber? Das hat einige Gründe: die Genese des Versprechens als politisches Druckmittel der SPD auf die Koalitionspartnerinnen (manche unken: weil die Wahlwiederholung am Horizont dräute), die rechtlichen Verstrickungen, die eine simplere Einzelticket-Lösung offenbar unmöglich machten, und schließlich die fehlende Zeit, die die teilnehmenden Verkehrsunternehmen unter gehörigen Stress versetzt hat.

Bleibt abzuwarten, ob die Brückenlösung am Ende überhaupt eine ist: Denn wer weiß schon, ob sich Bund und Länder wirklich rechtzeitig auf ein finanzierbares und für alle akzeptables Modell eines „9-Euro-Nachfolge-Tickets“ durchringen können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Redakteur taz.Berlin
Jahrgang 1969, lebt seit 1991 in Berlin. Seit 2001 arbeitet er mit Unterbrechungen bei der taz Berlin, mittlerweile als Redakteur für die Themen Umwelt, Mobilität, Natur- und Klimaschutz.
Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Wenn der Senat dazulernt, würde er wenigstens ein 58-Euro-Ticket für November und Dezember und ein 29-Euro-Ticket für den Dezember 2022 zum unkomplizieren Kauf am Automaten organisieren, ohne "Abofalle".

  • Mit 2,50 Euro Kündigungsgebühr und noch mal 40 Cent sonstigen Spesen kostet das Abo bei Dauer von 3 Monaten schon 29,97 Euro pro Monat.

    Kündigung läßt sich schnell erledigen.

    Zu den FAQ: Irgendwas steht da auch, mit dem Starterticket des Abos im ersten Monat könne man nur die "eigenen" Verkehrsmittel der BVG nutzen. Es gibt auch auch Startertickets für die normalen Abos für ABC, da hat man immer andere Verkehrsmittel wie die S-Bahn dabei. Also sicherlich kann man auch für die ersten 29 Euro S-Bahn fahren.



    Diese Regelung gab es schon immer, also kann man sich schon fragen, warum das so umklar fomuliert wird; auch fehlte eine Aussage, was das Starterticket für den schon begonnen Monat kosten würde (Spoiler: Ebenfalls den vollen Preis).

    Heute Riesenschlangen an den BVG Verkaufsständen. Ausgehändigt wurde dann lediglich ein Antragsformular und alternativ ein völlig überflüssiger QR-Code. Direkt kaufen bzw. direkt den Antrag angeben ging nicht. Das hätte auch mal durchgesagt werden können, dann wären 90% der Wartenden gleich gegangen und hätten eine Stunde Zeit gespart. Ich glaube, der Antrag auf Papier kann erst für ein Abo ab November gestellt werden.

    Nachdem sich ohnehin die weniger internet-affinen Leute in die Schlange eingereiht haben dürften, macht der QR-Code das Leben eher schwerer - warum wird nicht einfach die Internetadresse angegeben, die man natürlich auch sonst leicht findet.

    Auskünfte zur Kündigung muss man indes sehr mühsam herausfinden. Die war übrigens sehr schnell und leicht erledigt, bereits heute wirksam zum 31.12.2022.

    Trotzdem werden das einige versäumen, wahrscheinlich überproportional diejenigen, die nicht so viel Geld haben, weil sie eben nicht so sehr helle sind. War da nicht mal was mit sozialer Gerechtigkeit?

    Unbürokratisch wäre es gewesen, ein Ticket für 3*29 Euro = 87 Euro am Automaten zu verkaufen (im Bündel, keine Einzelmonate).

    Beim Sozialticket kann man beklagen, dass es keine Upgrade-Möglichkeit für die Differenz von 1,50 gibt

  • 6G
    656279 (Profil gelöscht)

    "Denn wer weiß schon, ob sich Bund und Länder wirklich rechtzeitig auf ein finanzierbares und für alle akzeptables Modell eines „9-Euro-Nachfolge-Tickets“ durchringen können."

    Die über drei Monate nachgewiesene Einfachheit und deutschlandweite Verfügbarkeit des 9-Euro Tickets sind der Maßstab, an dem sich nicht nur "die Abgründe" der aktuellen, Berliner Lösung messen lassen müssen.

    Bundesweit dann ähnliche Zumutungen wie aktuell in Berlin und bei entsprechend hohen Preisen weit jenseits der gern ventilierten 49 Euro/Monat, das sind in Anbetracht der erwartbar eher noch steigenden Energiekosten die beinahe einzigen Optionen einer bundesdeutschen Lösung.