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„Universen“ im Schauspielhaus Hannover„Holt euch die Steuergelder zurück“

Playstation-Turniere und Solidaritätskonzerte: Theatermacher Murat Dikenci lockt ein sonst eher theaterfernes Publikum ins Schauspielhaus Hannover.

Verfolgt ein offenes, postmigrantisches Konzept: „Universen“-Kurator Murat Dikenci Foto: Mark Mühlhaus/attenzione

Hannover taz Sonntagabend im Hannoveraner Schauspielhaus. Das Publikum im Saal ist etwas anders, als man es aus anderen Horten deutscher Hochkultur kennt: türkische Familien, Kopftuchträger*innen, BIPoC. Der Altersdurchschnitt liegt gefühlt bei Mitte 20, es wird gekichert und sich lautstark begrüßt.

Ein lauter Hip-Hop-Track ertönt; „Lauf weg, lauf weg, […] Blaumann haut dir die Farbe der Haut weg. Auch fremd, wenn du hier aufwächst.“ Von den hinteren Rängen kommend sprinten drei Männer auf die Bühne. Dort angekommen liefern sie sich ein Tanzbattle bis zum Ende des Tracks.

Einer der Tänzer ist Murat Dikenci, 35 Jahre alt, Schnurrbartträger und Gastgeber des Abends. Vom Tanz noch ganz aus der Puste, greift er nach einem Mikrofon und ruft: „Willkommen zu einer neuen Spielzeit Universen, Hannover!“ Die „Universen“, das ist das Studiobühnenprogramm des Hannoveraner Schauspielhauses. Sie sind Murat Dikencis Baby, er ist bereits im zweiten Jahr künstlerischer Leiter und Kurator. Mehr als das, er ist ihr Herzstück.

Die „Universen“ sind eine Art Dauerfestival, das über die gesamte Spielzeit stattfindet und sich von den klassischen Bühnenproduktionen des Hauses absetzt. Was es genau umfasst, ist nicht so klar, Theaterleute legen sich nicht gerne fest. Theatervermittlung, Begleitprogramm, partizipative Workshops – das trifft es nicht genau. Also einigte sich Dikenci mit dem Haus auf den Begriff „solidarische Bühne“.

Die Mission: die Stadt in ihrer Breite abbilden, Veranstaltungen für alle anbieten. Wie, ist egal, alles ist erlaubt: Konzerte, Filmscreenings, Lesereihen, Performances, Gedenkveranstaltungen, Workshops, Partys und Tanz.

Von Nouruz bis Chanukka

Auch religiöse Feste werden gefeiert. Im letzten Jahr gab es eine Nouruz-Feier, Chanukka mit der jüdisch-liberalen Gemeinde der Stadt musste wegen Corona abgesagt werden. „Aber die haben sich so gefreut, mal nicht zum Holocaust angefragt zu werden“, sagt Dikenci. In diesem Jahr wird es erstmalig eine Bühnenproduktion der „Universen“ geben.

Die Gedichte des palästinensisch-dänischen Dichters Yahya Hassan werden uraufgeführt, Regie führt Dikenci. Er findet, dass das Theater zu weit weg von den Menschen ist. „Die Kulturinstitutionen haben es über Jahrzehnte massiv verpasst, bestimmte Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Viele Menschen denken bis heute: Da gehöre ich nicht rein.“

Als die „Universen“ zur Spielzeit 2019/20 ins Leben gerufen wurden, war das Ziel, neue Zu­schaue­r:in­nen­grup­pen ins Theater zu holen, Aufbauarbeit zu leisten. Ein Wunsch, den viele Stadttheater hegen. „Der Denkfehler ist, dass viele dann nur partizipative Workshop-Programme machen“, sagt Murat Dikenci. „Dabei weiß ich von vielen Menschen, dass sie nach der Arbeit nichts übermäßig Intellektuelles brauchen. Die wollen unterhalten werden, also müssen wir ihnen auch so ein Programm anbieten.“

An dem Abend der Spielzeiteröffnung kommt deswegen also der Comedian Benaissa Lamroubal auf die Bühne. Er ist einer der Gründe, warum so viele junge Menschen da sind. Seine Stand-up-Comedy spricht gezielt ein migrantisches Publikum an, indem er kulturelle Unterschiede zwischen Ausländern und Deutschen aufzeigt. Lamroubals Pointen bringen den Saal zum Brüllen, teilweise aber mittels plumper Männer-Frauen-Stereotype. Doch vielleicht ist das der Preis, den man für die Öffnung des Theaters für neue Gruppen zahlen muss.

Wer in Dikencis Programm eine moralische Selbsterhöhung durch ein Übermaß an Political Correctness sieht, liegt falsch. In seinem Programm geht es ihm um Breite, nicht um Differenzierung. Dikenci stammt aus Hannover. Seine Großeltern kamen als Gast­ar­bei­te­r*in­nen nach Hannover und arbeiteten für Telefunken. Später zogen sie in die Türkei zurück, ihre Kinder blieben da.

Verantwortung gegenüber Community

Als Kind sang Murat Dikenci im Hannoveraner Knabenchor. Mit 19 fand er durch einen Aufruf für Lai­en­schau­spie­le­r*in­nen den Weg auf die Theaterbühne. Eines seiner ersten Stücke wurde in der Cumberlandschen Galerie aufgeführt, dem historischen Nebengebäude des Schauspielhauses, das für sein imposantes Treppenhaus bekannt ist und die Hauptstätte der „Universen“ darstellt.

Der Job im Schauspielhaus ist für ihn auch eine Verantwortung gegenüber seiner Community. Auch wenn sich das Haus Diversität auf die Fahne geschrieben hat, weiß er genau, dass das auch bloß eine endliche Ressource ist. Bevor er die Stelle antrat, fragte er sich: „Nehme ich jetzt meinen eigenen Leuten ein Stück vom Kuchen weg?“ In der heutigen, von Kollektiven geprägten Kulturlandschaft fungiert der Kurator auch als eine Art Community-Organizer.

Dikenci scheint für diese Rolle wie geschaffen. Im Gespräch erzählt er, wie er einem bulgarischen Kulturverein schrieb, dass die bulgarischstämmige Schauspielerin Vidina Popov ihr Monologstück „Ich bin Bulgare?“ aufführen würde. Er bekam keine Antwort, doch zu dem Abend kamen über 20 Bulgar*innen, die sonst nie ins Theater kommen.

Oder als er vor der Gedenkveranstaltung für die rassistischen Mordanschläge von Mölln bei einem türkischen Seniorenverein anrief, um dessen Be­woh­ne­r*in­nen zu dem Konzert der deutschtürkischen Bağlama-Virtuosin Derya Yıldırım einzuladen. Die Se­nio­r:in­nen wussten nicht, wo das Theater ist. Also holte er sie kurzerhand vom Kröpcke ab, einem zentralen Platz in Hannover.

„Es ist schockierend, dass die seit sechzig Jahren in Deutschland sind, aber nicht mal wissen, wo das Theater ist“, sagt er.

Solidarität gegen Rassismus

Die Intendantin des Hauses, Sonja Anders, schätzt Dikenci. „Ich finde es beeindruckend, wie er sich aus seiner eigenen Person heraus mit politischen Struggles verbindet und solidarisiert.“ Dikenci kultiviert keinen überhöhten Kunstbegriff, lässt sich emotional auf die Menschen ein, mit denen er arbeitet. Im Juni 2021 setzte er sich gegen die rassistischen Polizeistrukturen im tschechischen Osek ein, wo der 46-jährige Rom Stanislav Tomáš von Sicherheitskräften ermordet wurde.

Die Tat erinnert an die Ermordung des US-Amerikaners George Floyd, die 2020 für weltweite Proteste sorgte. Auch Tomáš starb durch einen Polizisten, der auf seinem Hals kniete. Murat Dikenci bewegte diese Geschichte besonders: er selbst wurde 2006 während einer Tournée in Osek Opfer eines rassistischen Angriffs von Neonazis und fühlte sich von der Polizei komplett allein gelassen. Als der Fall von Stanislav Tomáš publik wurde, setzte er sich auf Instagram lautstark für die Sin­ti*z­ze-&- Rom*nja-Gemeinschaft ein.

Seine eigene Machtposition über den Theaterraum und dessen Ressourcen sieht er als Chance für Umverteilung. Noch bevor er offiziell seine Stelle antrat, bestellte er mehrere Playstations, um Fifa-Turniere mit Jugendlichen veranstalten zu können. „Es ist egal, wie Menschen hierher gelangen. Hauptsache, sie können sagen: Ich war im Theater, das ist auch mein Ort.“

Mit seiner Auslegungsweise postmigrantischer Theaterräume steht er ganz in der Tradition der Berliner Theater Maxim Gorki und Ballhaus Naunynstraße, die in den 2000er Jahren um Sichtbarkeit und Anerkennung von Communities mit Migrationsgeschichte in der Hochkultur kämpfte. Murat Dikenci war damals mittendrin: Nach seinem Studium wurde er Hospitant am Ballhaus Naunynstraße, spielte zehn Jahre lang in der für die Ära so wichtigen Inszenierung „Verrücktes Blut“.

Postmigrantischer Spirit

Diesen Spirit führt er Hannover fort. „Menschen wie meine Großeltern wurden im Theater nie mitgedacht. Ich sage ihnen heute: Holt euch eure Steuergelder zurück! Geht in die Theater und nutzt, was mit euren Steuergeldern produziert wird!“

Doch warum brauchen marginalisierte Communities eigentlich eigene Kulturveranstaltungen? Vielleicht ist es auch umgekehrt. Die Mehrheitsgesellschaft und ihre Hochkultur brauchen das postmigrantische Theater, denn eine Gesellschaft lässt sich am besten von ihren Rändern betrachten.

Das zeigt sich auch in Dikencis Begrüßungsrede zu seiner zweiten Spielzeit „Universen“. Ein Schwerpunkt soll auf dem Hinterfragen toxischer Männlichkeitsbilder und der Erwartungshaltung an migrantische Männlichkeit liegen.

Murat Dikenci unterbricht sich selbst und bittet seinen Vater auf die Bühne. Bei seinem Baba bedankt er sich, dass er ihm so einen gesunden Umgang mit Männlichkeit vermittelt hat. Und wie zum Beweis kommen ihm Tränen, die beiden umarmen sich auf der Bühne. Ein schöner Moment, der vielleicht mehr vermittelt hat als so manch realitätsferner Theaterdialog.

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