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Alltag in der UkraineDie Gräber von Lwiw

Im Westen der Ukraine ist kein Krieg, doch seine Spuren durchziehen den Alltag. In der Kirche, bei der Blumenverkäuferin, auf Friedhöfen.

Der Lytschakiwski-Friedhof in Lwiw ist ein besonderer Ort Foto: Marco Zschieck

Lwiw taz | Am Spätsommernachmittag wirkt Lwiw friedlich und voller Leben. Die Menschen spazieren auf dem breiten Boulevard. Gleich neben dem großen Denkmal für den Nationaldichter Taras Schewtschenko hat ein Schlagzeuger sein Instrument aufgebaut. Zu den Klängen mehr oder weniger patriotischer Musik aus der Konserve trommelt er für die Spaziergänger. Im benachbarten Garten eines Cafés im Wiener Stil ist jeder zweite Tisch besetzt. Nicht schlecht für einen Wochentag. Man kann in der Ukraine kaum weiter entfernt von der Front sein als in dieser Großstadt, 90 Kilometer vor der polnischen Grenze. Doch das Sterben ist auch hier präsent.

Das Kontrastprogramm läuft, keine 50 Meter entfernt, in der früheren Jesuitenkirche. Einige der historisch wertvollen Kirchenfenster sind mit Spanplatten verkleidet, um bei einem Angriff Splitter aufzuhalten. Aus dem Inneren erklingt Gesang. Rund 50 Besucher haben sich zur Nachmittagsmesse versammelt, auch ein paar Soldaten in Uniform. Ein Geistlicher der Griechisch-Katholischen Kirche in einem weißen, bestickten Gewand hält die Zeremonie ab.

Der mächtige, rund 400 Jahre alte Barockbau heißt inzwischen offiziell Garnisonkirche St.Peter und Paul und gehört dem Zentrum für Militärseelsorge. Nach der Besetzung durch die Sowjet­union flohen die Jesuiten. Der im Krieg demolierte Sakralbau wurde zum Buchdepot der Akademie der Wissenschaften umfunktioniert. Das hat das Gebäude wahrscheinlich gerettet. Seit 2008 hat die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche hier die Hoheit. Sie ist die größte Glaubensgemeinschaft im ­Westen der Ukraine. Zwar folgt sie dem Ritus der Ost­kirchen, jedoch untersteht sie dem Papst.

Im Seitenschiff der Militärkirche sind zerstörte Waffen aus acht Jahren russischen Kriegs gegen die Ukraine ausgestellt. Auch eine Kassette für verbotene Clustermunition ist darunter. Daneben sind auf einer Tafel die Porträts von gefallenen ukrainischen Soldaten zu sehen. Seit Februar sind neue Porträts dazugekommen.

Der Freund, der im Sommer heiraten wollte

„Wir haben jeden Tag eine oder zwei Trauerfeiern“, sagt Kaplan Roman Mentuch nach der Messe, zurück in seinem Büro. „Heute Morgen habe ich einen 28-Jährigen begraben. So alt wie ich.“ Er erzählt: „Das da draußen sind nicht nur Fotos. Das sind unsere Freunde gewesen.“ Viele kannte er persönlich, manche habe er verheiratet. Eine der ersten Beerdigungen nach Beginn der Invasion im Februar sei ein enger Freund gewesen. „Er wollte im Sommer heiraten.“

Mentuch ist seit 2019 Militärkaplan. Die Aufgabe sei emotio­nal belastend, aber er mache sie immer noch gern. Die Hälfte der Zeit ist er in Lwiw, die andere Hälfte verbringt er mit Besuchen bei den Einheiten aus der Region – auch im Frontgebiet. Wieder in Lwiw zu sein fühle sich für ihn an wie Ferien.

Mentuchs Hauptaufgabe ist der spirituelle Beistand für die Gläubigen, aber auch emotional und psychologisch unterstützt er sie. Seit Februar habe er viel mehr mit Hinterbliebenen zu tun. „Keine Worte können helfen. Das wissen wir“, sagt er. „Aber wir können zuhören, zusammenstehen und beten.“

Darüber hinaus versuche die Einrichtung auch praktisch zu helfen. So habe man beim Spendensammeln und bei der Beschaffung von Helmen, Schutzwesten und Medizin geholfen. Auch ein Auto für Evakuierungen wurde besorgt. Außerdem werde Geld für die Rehabilitation Verwundeter gesammelt.

Für Trauergestecke ruft man nach Anna

Für Floristin Anna bedeuten die vielen Beisetzungen traurige Nachfrage. Die 22-Jährige hat einen Stand am Blumenmarkt, am Rand der Altstadt. Ein gutes Dutzend Verkäuferinnen bieten im Inneren ihre Waren an. Es duftet nach allem, was blühen kann. Fragt man nach Trauergestecken, rufen die Kolleginnen nach Anna. „Meistens melden sich die Einheiten der Gefallenen direkt von der Front“, erzählt sie. Dann könne sie alles vorbereiten. Auf ihrem Smartphone zeigt sie ihre Arbeiten aus der letzten Zeit. Es sind Bilder von mehreren Dutzend Kränzen und Gestecken. Oft sind die Farben Bau und Gelb dabei und fast immer Sonnenblumen.

Das da draußen sind nicht nur Fotos. Das waren unsere Freunde

Roman Mentuch, Militärkaplan

Die gefallenen Soldaten werden in der Regel zur Beisetzung in ihre Heimatorte gebracht. Einen zentralen Ort gibt es also nicht. Allein in Lwiw gibt es etwa ein Dutzend Friedhöfe. Ein besonderer Ort ist der Lytschakiwski-Friedhof. Aufwendig gestaltete Grabmäler sind zu sehen. Lange wurden hier Angehörige der polnischen Oberschicht bestattet. Unter Sowjetherrschaft ist vieles verfallen, seit einigen Jahren wird restauriert. Auf dem Areal sind auch viele Opfer von Aufständen und Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts bestattet. Ein Friedhof, der die Geschichte der Stadt widerspiegelt.

Am Südeingang befindet sich eine Gedenkstätte. In einem Oval um eine Kapelle sind Gräber angeordnet. Die Grabsteine haben alle das gleiche Design in Form des Wappenkreuzes der ukrainischen Streitkräfte und goldfarbene Inschriften. In der Mitte ist jeweils ein Porträtfoto angebracht. Ungefähr 70 solche Ehrengräber sind seit 2014 angelegt worden. Die neueren Gräber aus diesem Jahr nehmen ungefähr gleich viel Fläche ein. Sie haben noch keinen Grabstein, sondern Holzkreuze. Doch der Platz reicht nicht mehr aus.

Im nördlichen Teil des Friedhofs liegt eine Wiese, die den Namen Marsfeld trägt – benannt nach dem römischen Gott des Kriegs. Die Rasenfläche ist etwa so breit wie ein Fußballplatz und etwa drei mal so lang. Der Länge nach wird sie von einem Streifen aus rötlich eingefärbtem Beton mit drei Streifen auf dunkelbraunen Granitplatten durchzogen. Darauf sind die Namen von gefallen Sowjetsoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg eingraviert.

Gestorben zwischen Anfang und Mitte Zwanzig

Wegen der rötlich-braunen Farbgebung sei das Monument in Lwiw umstritten, erzählt ein Besucher. Sie erinnere an das zaristische Georgsband, das einst Stalin als Auszeichnung in der Roten Armee wiedereingeführt hatte und das auch ein Symbol der heutigen russischen Aggression ist.

Zwischen der alten Friedhofsmauer und dem Weltkriegsmonument liegen die jüngst Verstorbenen des Kriegs begraben. Die Gräber sind meist mit einem Holzkreuz markiert, auf dem Name sowie Geburts- und Todestag stehen. An vielen ist auch ein Foto angebracht. Die meisten sind zwischen Anfang und Mitte zwanzig getötet worden.

Auch die schon ein paar Monate alten Gräber sind mit frischen Blumen geschmückt. An den meisten ist eine ukrainische Fahne angebracht, an einigen auch die Fahne der Luftlande­brigade, die eigentlich in der Region stationiert ist. Ähnlich oft ist die rot-schwarze Fahne der Ukrainischen Aufständischen Armee zu sehen. Im Zweiten Weltkrieg kollaborierte die UPA zeitweise mit dem nationalsozialistischen Deutschland und bekämpfte die Polnische Heimatarmee.

An einem Mittwochabend ist es still auf dem Marsfeld. Nur eine Handvoll Trauernde sind vor Ort. Ein Paar kümmert sich um Blumenschmuck und Kerzen an einem der Gräber am oberen Ende. Ein Mann steht einfach nur da, inmitten der Gräber. Am Fußende eines Grabes, ein paar Reihen weiter unten, kniet eine Frau und weint still. In der letzten Reihe neben den bestehenden Gräbern ist ein neues Grab schon ausgehoben.

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9 Kommentare

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  • Ich würde mich auch gerne noch mit in die Diskussion bringen:

    1. Jeder hier hat irgendwie recht.



    2. Freiwillig, psychologisch, materiell oder auf andere Art beinflusst kann man Menschen zur Kriegsteilnahme bringen.



    3. Aber eigentlich gehören Partner, Kinder, und Enkel zur Familie, und nicht auf den Friedhof.



    4. Ich setze mich schon lange für mehr Frieden und Miteinander überall auf der Welt ein - um da etwas zu erreichen sind viele weitere Menschen nötig - auch damit es keine Kriege mehr gibt.

  • Und dennoch sind die Macher der Grünen auf den Kriegspfad eingeschworen. Habeck, Baerbock, Hofreiter - wo und wann ist der Pazifismus des grünen Ursprungs untergegangen? Würde ich für Deutschland in den Krieg ziehen, wenn es von aussen angegriffen würde? Da gibts für mich nur eins: Nein! Warum ist es so einfach geworden, den Ukrainern zu sagen: Geht hin und verreckt im Krieg, wir geben Euch die Waffen dazu. Es ist erschreckend. Der grüne Traum ist ausgeträumt!

    • @bouleazero:

      Für Deutschland kämpfen? Nein. Für die Demokratie? Bis zum letzten. Nur wer bereit ist die Demokratie gegen äußere Aggression zu verteidigen ist auch Demokrat. Alles andere ist Gutwetter Geschwätz.

      • @Machiavelli:

        Wer bereit ist, Menschen anderer Länder zu töten , dessen Demokratieverständnis teile ich nicht. Kein Leben ist es wert für materiellen Wohlstand oder eine wohlgefällige Regierungsform geopfert zu werden. Schon gar nicht zig- oder hundert Tausende. NotMyWar

        • @bouleazero:

          Sie fanden es also falsch gegen die Nazis zu kämpfen?

          • @Machiavelli:

            Würden Sie in den Krieg ziehen wollen? Irgendeinen, egal welchen? Ich nicht. Über Kriegführen entscheiden die Machthaber in allen Ländern. Ich habe den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert und es mein Leben lang nicht bereut. Leider bekommt man in jedem Land eine Mehrheit hinter eine Regierung, die in den Krieg ziehen will. Ich empfehle jedem abzuhauen, wenn er in kriegsfähigem Alter ist und ein Krieg droht. Deshalb dürfen die Männer zwischen 18 und 60 in der Ukraine das Land auch nicht verlassen. Sie werden nicht gefragt, ob sie in den Krieg wollen. Sie müssen.



            Und Nein! Ich wäre auch nicht in einen Krieg gegen Nazis gezogen. NotMyWar

            • @bouleazero:

              Naja wenigstens sind sie konsequent.

    • @bouleazero:

      Sind Sie schon mal auf den Gedanken gekommen, dass die Ukrainer freiwillig kämpfen? Dass es sich ganz generell auch lohnen kann bzw. der einzige Weg ist, zu kämpfen, weil die Alternative so schrecklich ist?

      • @Suryo:

        Wenn Sie tatsächlich glauben, dass die Ukrainer freiwillig kämpfen, dann ignorieren Sie geflissentlich, dass auch in der Ukraine junge, kriegsreife Männer auf der Strasse eingezogen werden.



        Die Alternative wäre vermutlich, unter russischen Verhältnissen zu leben. Und ja, damit könnte ich besser leben als unter ukrainischen Verhältnissen tot zu sein.